Warum das Dorf unbedingt weiterleben will

Naturkatastrophe

Blatten 2025 geht in die Geschichte ein. Dass ein Bergsturz in der Schweiz fast einen Ort auslöscht, kann sprachlos machen. Und doch ist auch aus reformierter Sicht etwas zu sagen.

Die Menschen des Bergdorfes Blatten müssen mit dem Verlust ihres Daheims fertig werden. «Hab und Gut ist zerstört, Heimat, Erinnerungen, die eigene Verwurzelung liegen unter Eis und Geröll. Die Menschen müssen von Neuem beginnen. Sie brauchen Hilfe von aussen.» Das schreibt Daniel Rüegg auf der Website der evangelisch-reformierten Kirche des Wallis (ERKW). Er ist in Brig Pfarrer und zudem Synodalrat der ERKW. 

Im zerstörten Dorf selbst lebten bis zur Naturkatastrophe sieben Mitglieder der reformierten Kirche. Die Kirchgemeinde habe sie direkt angeschrieben und Unterstützung angeboten, wenn Bedarf da wäre, sagt Rüegg auf Anfrage. Doch wie viele reformiert sind, sei für ihn nicht zentral, betont der Pfarrer: «Am Montag war ich dort und habe mit einer Gemeinderätin gesprochen. Viele Menschen wissen zurzeit noch nicht, was tun und wohin gehen. Unser Anliegen ist daher, dass wir auch in ein paar Monaten da sind und unterstützen.» Das solle in Zusammenarbeit mit der katholischen Kirche geschehen.

Mitgefühl von Bischofskonferenz und Ortsbischof

Der katholische Pfarrer im Lötschental, Thomas Pfammatter, sagte noch Tage vor der Katastrophe, dass die Pfarrkirche von Blatten nicht gefährdet sei. Das schreibt die NZZ am Sonntag in ihrer Ausgabe vom 1. Juni 2025. Kurz darauf wurde die Kirche weggerissen, begraben. Trotzdem will Pfammatter, bei aller Fassungslosigkeit, den Menschen Trost spenden. Und er will gemäss NZZ Kraft bringen mit seiner eigenen Haltung, die sich in der ersten Nacht nach dem Bergsturt gefestigt habe: Jetzt erst recht soll Blatten wieder Heimat werden.

Sowohl alle Mitglieder der Schweizer Bischofskonferenz (SBK) als auch der Ortsbischofs Jean-Marie Lovey selbst zeigten sich in offiziellen Mitteilungen tief erschüttert. «Angesichts dieser Tragödie bekunden sie ihre Solidarität mit allen Betroffenen und beten für sie», heisst es. Lovey blicke «gemeinsam mit allen Einwohnern des Wallis und vielen Menschen darüber hinaus mit gebrochenem Herzen auf Euer Dorf. Ich weine um Blatten.» Der Glaube sei eine Kraft, die es ermöglicht, über eine solche Katastrophe hinaus weiterzuleben. 

Ein grosser Bergsturz verschüttete am 28. Mai 2025 fast das ganze Dorf Blatten zuhinterst im Lötschental, zahlreiche Häuser versanken durch die nachfolgende Stauung des Talbaches Lonza im Gletscher- und Schmelzwasser. Da es Warnzeichen gegeben hatte, waren bereits am 19. Mai über 300 Bewohnerinnen und Bewohner und Tiere evakuiert worden. Ein Mann wurde wahrscheinlich beim Bergsturz getötet. Das Gebiet dürfte für längere Zeit zu unsicher sein für einen Wiederaufbau des Dorfes.

Auf map.geo.admin.ch hat Swisstopo Flugbilder der Region publiziert und ein Tool eingerichtet. Mit einem Schieber kann so verglichen werden, wie die Landschaft vor dem Bergsturz aussah und wie sie sich Anfang Juni präsentiert. Unter diesem Link finden Sie die eindrückliche Ansicht.

40 Reformierte im ganzen Tal 

Allein wegen der geringen Anzahl Mitglieder – im gesamten Lötschental sind es gemäss Rüegg 40 Reformierte – sei die Walliser reformierte Kirche weder sehr finanzstark noch personell kräftig. «Wichtig ist uns aber: Als Kirche begleiten und unterstützen wir soweit möglich», sagt Daniel Rüegg.

Die reformierten Kirchgemeinden des Wallis würden in den Gottesdiensten im Gebet an die Blattnerinnen und Blattner denken und sich den Betroffenen gegenüber solidarisch erweisen. «Gerade in Zeiten der Krise sind wir als Getaufte und Glaubende an unseren himmlischen Vater und unseren Herrn Christus gewiesen», hält der Synodalrat auf der Website der Kirche fest.

«Typisch ausserschweizerische» Diskussion

Dass nun wegen des Bergsturzes teilweise die Diskussion aufgegriffen werde, ob Bergtäler noch so bewohnt bleiben sollen, wie sie es bisher sind, bezeichnet der Pfarrer als «typisch ausserschweizerische Sicht auf das Wallis». Es brauche jetzt erst mal vor allem Zeit, hält Rüegg fest. «Die Menschen hatten ihren Grund und Boden dort, und da gehören sie hin, da wollen sie bleiben.» 

Mit einer so grossen Tragödie habe niemand gerechnet, und so solle auch jetzt niemand die Zukunft vorwegnehmen. Man müsse schauen, wie sich die Geröllmassen setzen werden, wo sich die Lonza ihren Weg suchen wird. Schliesslich findet Daniel Rüegg: «Man hat auch sonst schon Dörfer totgesagt.» Und doch würden sie weiterleben.

Demut und Pragmatismus

Warum lässt Gott solches Unglück zu? Auf die sogenannte Theodizeefrage nach Gottes Gerechtigkeit geht Stephan Jütte am 2. Juni in einem Blogbeitrag zum Bergsturz im Lötschental mit dem Titel «Wenn Natur zur Katastrophe wird» ein. Jütte ist Leiter Theologie und Ethik bei der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (EKS). Er hält fest, dass sich die Frage nur stelle, wenn man mehr erwarte als blinden Zufall. Also: «Wenn man davon ausgeht, dass das Leben Bedeutung hat, dass die Welt nicht einfach ist, sondern Sinn trägt.»

Während früher vergleichbare Katastrophen oft als Strafe Gottes gedeutet worden seien, würde heute eher menschliches Handeln selbst als Ursache oder «schuldig» gewertet. Ein solches Deutungsmuster verschaffe Erleichterung, weil es Ordnung verspreche, schreibt Jütte. Doch sei es ein moralisch motiviertes Denken, das leicht in Anklage kippe – gegen sich selbst oder andere.

Gerade deshalb sei es hilfreich, sich an einen Kern protestantischer Theologie zu erinnern: «Kein Mensch kann sich vor Gott selbst rechtfertigen. Nicht Leistung, nicht moralische Makellosigkeit, sondern allein die Gnade Gottes begründet unsere Annahme.» Jütte will das nicht als Freifahrtschein verstanden wissen. Doch dieser Gedanke und der Glaube an diesen Gott, der uns einfach so in sein Herz geschlossen hat, öffne uns Menschen dafür, unsere Fehler anerkennen zu können. 

Schliesslich sieht der Theologe die Kombination von Demut und Pragmatismus als «realistischen Zugang» und «Ethik des Möglichen». Sich nicht zu wichtig nehmen, aber auch nicht bedeutungslos sehen, könne einen bestärken. «Ich bin nicht allmächtig – aber handlungsfähig», hält Jütte vor Augen.