Er wirkt wie ein freundlicher Grossvater. Giulio Giordano trägt auch im heissen italienischen Hochsommer Hosen mit Bundfalten und Hemd. «Giulietto» nennen sie ihn in seiner Heimatstadt Torre Pellice. Allein das auffällige grüne Tuch, das er um seinen Hals trägt, verrät, dass ein Teil seiner Biografie von Krieg, Kampf und Gewalt geprägt war.
Das todesmutige Wirken der Partisanen im Untergrund
Die Waldenser leisteten Widerstand gegen Faschismus und Nationalsozialismus – ob bewaffneter Kampf oder Beschaffung von Informationen. Ehemalige Beteiligte erinnern sich.
Die Buchstaben G und L, die auf sein Halstuch gedruckt sind, stehen für «Giustizia e Libertà», den Namen der Partisanengruppe, welcher der heute 99-jährige Giordano im Zweiten Weltkrieg angehörte. Was für Unbeteiligte nach viel Mut klingt, hält Giordano für eine natürliche Folge seiner Erziehung: «Mit der Familie, die ich hatte, konnte ich nur Partisan werden.» Seine Eltern gehörten zu den wenigen Menschen in Torre Pellice, die damals nicht der faschistischen Partei angehörten. «Mein Vater sagte immer: Erzähl niemandem, was wir zu Hause reden.»
Waffenlager im Stall
Die Faschisten hatten im Frühjahr 1943 keine Rekrutierungsbefugnis mehr und durften Giordano daher nicht einberufen. Und so war er frei, um im Widerstand zu kämpfen. In den Hügeln und Tälern des Piemont formierten sich weitere Partisanengruppen. Das Gebiet, in dem sie operierten, umfasste etwa 100 Kilometer, und in einem Stall oben im Gebirge lagerten sie Waffen.
«Sicher haben wir auch getötet», sagt Giulio Giordano. «Wir befanden uns in einem Bürgerkrieg.» Es gab ein nationales Befreiungskomitee, das Verordnungen festlegte. Jede Partisanengruppe hatte ein Tribunal, das innerhalb von 24 Stunden über das Schicksal von Geiseln zu entscheiden hatte.
Eine unblutige Waffe der Partisanen war die Untergrundzeitung «Il Pioniere». Die Idee dazu entstand in der Gruppe «Giustizia e Libertà», die sich aus ehemaligen Schülern und Lehrern im waldensischen Umfeld gebildet hatte. Giordano war Macher, Redaktor und Zulieferer des Blattes, das im Juni 1944 entstand. Auf alten, vergilbten Kopien lassen sich bis heute Informationen zur damaligen politischen Weltlage und zu Entwicklungen vor Ort nachlesen. Gedruckt wurde klammheimlich. Bis Ende 1945 durchsuchten die Faschisten die Druckerei elf Mal – ohne etwas zu finden.
«Die Wahrheit erzählen»
Giordano lebt allein in seiner Wohnung. Seine Nachbarn schauen gelegentlich nach ihm. Seit Jahren ist er Vorsitzender der A.N.P.I., der nationalen Vereinigung italienischer Partisanen, Sektion Torre Pellice. Die A.N.P.I. wurde 1944 in Rom von Mitgliedern der ‹resistenza›, der italienischen Widerstandsbewegung gegen den Faschismus, gegründet. Seit einiger Zeit wächst die Zahl ihrer Mitglieder wieder an. «Wir müssen die Wahrheit erzählen. Und die ist, dass die Italiener Faschisten waren. Und wir heute keine klare antifaschistische Position mehr in diesem Land haben», sagt Giordano.
Stille Zeugen des Widerstands finden sich in Torre Pellice überall. Auf Steinen und Tafeln wird der Menschen gedacht, die ihr Leben lassen mussten. Viele Einwohnerinnen und Einwohner der kleinen, von Bergen umgebenen Stadt und benachbarter Regionen deckten die Aktionen der Partisanen.
«Das ist bloss Statistik»
Die waldensische Prägung des Tals sei womöglich mit ein Grund, weshalb gerade hier so viele Menschen gegen die Faschisten gekämpft hätten, sagt Giordano. Als ehemalige Verfolgte reagierten sie vielleicht sensibler auf Unfreiheit. «Aber ich wehre mich zu sagen, dass der Widerstand eine ‹restistenza valdese› war. «Es war Widerstand der Leute im Tal, in dem die Mehrheit Waldenser sind. Das ist bloss Statistik.»
Dann entschuldigt sich Giordano und greift zum Telefon. Er reserviert einen Tisch für sich und seine Freunde zum Essen. Lebensfreude hat er, der alte «partigiano».
Diesen Oktober feiert Maria Airaudo ihren 100. Geburtstag. Sie lebt mit ihrer 96 Jahre alten Schwester in einer Wohnung in Luserna San Giovanni im Val Pellice. Die beiden sorgen füreinander. Hin und wieder kommt die Nichte aus Turin vorbei, um nach den betagten Damen zu sehen.
Für eine eigene Familie jedoch konnte sich Maria Airaudo nicht entscheiden: «Ich wollte niemals ein Kind in den Krieg schicken müssen.» Der Krieg treibt Airaudo noch immer Tränen in die Augen: «Ich glaube, er ist das Fürchterlichste, was Menschen tun können.» Als Zweitgeborene von sechs Kindern ist sie in einer armen Familie aufgewachsen. Mit 13 Jahren begann sie, in der Textilfirma Mazzoni zu arbeiten: «Ich hatte acht Webstühle zu betreuen und bekam einen Akkordlohn.»
Waffen per Fahrrad
Die italienischen Faschisten hielten die Firma an, Kleidung fürs Militär anzufertigen. Die junge Airaudo wollte aber das Ende des Krieges, sie schloss sich Arbeitskollegen an und streikte. Nicht nur ihr Vater kritisierte sie für diese Entscheidung. «Du tust alles, damit sie dich töten», sagte er zu ihr.
In der Partisanengruppe Garibaldi fand sie Gleichgesinnte. Als sogenannte «staffetta» brachte sie per Fahrrad Waffen und Informationen von einer Partisanengruppe zur anderen. «Zu meinem Schutz kannte ich den Inhalt der Dokumente nicht.»
Am 26. März 1945, das Datum hat sich fest in ihrem Gedächtnis eingebrannt, erfuhr sie, dass man sie entdeckt hatte. Sie wurde an die Wand gestellt, ihre Häscher schossen, die junge Frau fiel zu Boden. Doch sie blieb am Leben. Einzig ein Splitterstück des Projektils steckt bis heute in ihrer Lunge und verursacht hin und wieder Beschwerden.
«Es ist wichtig, jungen Menschen die Idee des Friedens nahezubringen», sagt sie. Daher suchte Maria Airaudo jahrelang Schulen auf, wo sie von ihren Erlebnissen im Krieg berichtete. Für sie sei ihr Engagement keine politische Frage, sondern eine der Humanität. «Die Jungen müssen wissen, was Krieg ist.» Dann weint sie wieder. «Ich habe versucht zu vergessen. Aber es ist nicht möglich.»
Die Wohnung von Michelina Cesan ist ordentlich aufgeräumt und verströmt eine wohltuende Ruhe. Es ist Abend, und allmählich kühlt die Luft etwas ab. Die Frau am Tisch hat wache Augen.
Zur Welt kam Cesan 1930 in Torre Pellice. «Ich war sehr jung, als ich begann, den Partisanen zu helfen, 14 Jahre», erzählt sie. Neben ihrem Elternhaus befand sich eine versteckte Radiostation. Mithilfe der Alliierten zapften zwei Ingenieure und ein Telegrafist die Nachrichten an. Und hinter dem Haus der Familie lebte jemand, der Beziehungen zum Chef einer Partisanengruppe hatte.
Die deutschen Faschisten als Nachbarn
Die Eltern von Michelina Cesan hatten zahlreiche «partigiani» als Freunde, versteckten sie oder boten ihnen Unterschlupf, wenn sie aus den Bergen in die Stadt kamen. Besonders heikel war, dass in einem anderen benachbarten Haus die deutschen Faschisten ihre Kommandozentrale eingerichtet hatten.
Die Eltern zogen sie mit in den Widerstand. «Als ‹stafetta› war ich immer mit dem Fahrrad unterwegs. Vor der Kommandozentrale der Deutschen habe ich jeweils besonders aufgepasst», erinnert sich Cesan. Viele Frauen fungierten damals im Widerstand als Nachrichtenkurierinnen, und meistens benützten sie auf ihren Wegen das Fahrrad.
«Das Kommunikationssystem war ausgeklügelt.» Cesan zum Beispiel traf jeden Abend den Ingenieur Savonuzzi zum Informationsaustausch im vier Kilometer entfernten Luserna. Und Savonuzzi wiederum gab ihr Nachrichten direkt aus Turin mit. «Ich hatte eine gute Ausrede für die tägliche Tour, meine Grosseltern lebten in Luserna.»
«Jung und naiv» sei sie gewesen, als sie als «stafetta» ihr Leben riskiert habe, sagt die Frau, die nach dem Krieg viele Jahre als Klavierlehrerin arbeitete. «Aber zu der Zeit konnte man nicht machen, was man wollte, sondern, was man musste.» Als Waldenserin kann sie sich vorstellen, dass das traditionelle Freiheitsbewusstsein ihrer Kirche dem Kampf der Partisanen zugutekam. Doch sie betont: «Die Partisanen waren katholisch, jüdisch, einfach aus der Region, studiert oder Arbeiter. Es war alles dabei.»
Monica Barotto ist 31 Jahre alt und will etwas verändern. Anders als viele junge Menschen in Italien, die ihre Einstellung zwar teilen, selbst aber passiv bleiben, will Barotto handeln.
Seit 2016 amtiert sie als Vizepräsidentin der A.N.P.I. (Associazione Nazionale Partigiani d’Italia) in Torre Pellice und steht dem ehemaligen Weltkriegspartisanen Giulio Giordano zur Seite. Sie hilft bei der Organisation von Veranstaltungen und betreut die Social-Media-Kanäle.
Barotto erfuhr in ihrer Familie aus Erzählungen, was es hiess, unter dem Faschismus zu leben. Ihr Urgrossvater, der in der Lebensmittelindustrie arbeitete, wurde von den Faschisten ins Gefängnis geworfen, weil er Fleisch an hungernde Bekannte vergab.
«Zudem hatte ich eine Lehrerin, die uns mit dem Thema Widerstand vertraut machte und uns das berühmte Partisanenlied ‹Bella ciao› lehrte.» Im Studium dann traf Barotto auf die A.N.P.I. und wurde Mitglied. «Ich bin keine Partisanin, aber eine Antifaschistin.» Seit 2016 steht die Organisation auch Mitgliedern offen, die nicht im Widerstand waren.
Monica Barotto ist inzwischen selbst Lehrerin. Sie bemängelt, dass die italienische Geschichte nicht angemessen unterrichtet werde. «Man verbindet den historischen Faschismus nicht mit Entwicklungen in der heutigen Zeit», stellt sie fest. Es bleibe bei einem «Das war einmal». Und das hält Barotto für gefährlich.
Die Blume des Widerstands
Deshalb nimmt sie bereits mit ihren Vorschulkindern altersgerechte Geschichten durch, die auf spielerische Art Ausgrenzung thematisieren. «Wir malen auch die ‹papaveri› aus, die typische Blume des Widerstands.» Weil der rote Mohn überall wachsen kann, gilt er als Blume der Widerstandsbewegung.
Die Waldenserin Barotto teilt die Werte ihrer Kirche. «Sie unterstützt mich ideell und ist eine Kraft für mich.» Den Einsatz für Migranten heisst Barotto ebenso gut wie das Ja zu gleichgeschlechtlichen Beziehungen. «Als Waldenserin weiss ich, was es bedeutet, wenn Menschen wegen ihrer Religion oder ihrer ethischen Haltung einfach ausgelöscht werden sollen.»