Vier Kreuze als Fragenkatalog und Reflexionsfolie

Kunst

Marina Abramović bringt die Kreuze zurück in die Zürcher Wasserkirche. Und ermöglicht so, unser Glaubenssystem zu hinterfragen: Was ist göttlich, was bösartig – um uns und in uns?

Vier riesige Kunst-Kreuze stehen seit dem 28.  November öffentlich zugänglich in der Wasserkirche beim Helmhaus in Zürich. Geschaffen hat sie eine der grössten lebenden Künstlerinnen überhaupt: die serbische Performance- und Konzeptkünstlerin Marina Abramović (78). Mit ihrem Werk «Four Crosses» präsentiert sie dem Publikum einen Fragenkatalog: Was ist gut, was ist böse, was positiv, was negativ? 

Und was, wenn der Mensch am Kreuz eine Frau wäre? Überhaupt: Welche Frauenbilder geistern da in unseren Köpfen rum: Heilige und Hure, Mutter und Geliebte, Täterin und Opfer? Wie sind sie von der christlichen Ikonografie geprägt – etwa von den Darstellungen der Gottesmutter Maria oder von Maria Magdalena? Und was genau bedeutet für uns das Kreuz? 

Die Mauern des Museums sprengen

Mit dem Werk «Four Crosses» präsentiert Abramović den Besucherinnen und Besuchern einen Fragenkatalog für die Selbstreflexion; der Standort in der Wasserkirche ist bewusst gewählt und verleiht dem Werk zusätzliche Brisanz. Das Kunsthaus Zürich zeigt das Werk Abramovićs ja gerade bis 16. Februar 2025 in einer grossen Retrospektive, die in aller Munde ist. Die Kuratorin Mirjam Varadinis wollte aber ganz bewusst auch die Mauern des Museums überwinden: «Marina ist ja bekannt dafür, dass sie mit ihrem Werk Grenzen sprengt; körperlich, mental und gesellschaftlich.» 

Und einige ihrer Arbeiten beschäftigen sich eben auch mit spirituellen Barrieren in den Köpfen. Das gilt besonders für «Four Crosses». Bisher war das Werk nur in Museen zu sehen, etwa bei Retrospektiven in London oder Amsterdam. Kunsthaus-Kuratorin Varadinis fand allerdings, fürs Museum seien die vier grossen Kreuze zu sperrig und eine Kirche eigne sich besser für den Bedeutungskontext. 

Sie sagt: «Als Kulturraum und Ort für künstlerische Experimente hat sich die Wasserkirche etabliert.» Marina Abramović sei bei der Besichtigung ganz begeistert gewesen von dem grossen, leeren Kirchenraum: «Sie fand es eine super Idee.» So war der Grundstein für diese Kooperation zwischen Kunsthaus und der reformierten Kirche gelegt – und die Zusammenarbeit trägt beachtliche Früchte.

Marter und Martyrium

Schliesslich ist die Wasserkirche nicht irgendeine Kirche, wie der Grossmünster-Pfarrer Martin Rüsch der Künstlerin beim Augenschein erklärte: Hier wurden die Stadtheiligen Felix und Regula geköpft, die Kirche wurde über den Hinrichtungsstein gebaut. Nebenan, in der Limmat, haben die Reformatoren Falschgläubige wie die Täufer ersäuft. Lange war sie ein katholischer Wallfahrtsort. 

Die Reformation hat dann mit den alten Bilderwelten der Katholiken aufgeräumt: Kreuze hinausgeschafft, Heiligenbilder abmontiert. Auch das passt, weil Abramović mit ihrem Werk die Bedeutung religiöser Bilder hinterfragt. «Die Wasserkirche hat eine sehr schwere Geschichte», sagt Abramović gegenüber reformiert. «Meine vier Kreuze in diesen Zusammenhang zu stellen, verleiht meinem Werk zusätzliche Bedeutung.» 

Marina Abramović gilt ja selbst als eine Art Märtyrerin für die Kunst, denn sie hat bei ihren Kunstaktionen wiederholt Marter ausgehalten, ja dem Tod ins Auge geschaut. Etwa 1974 bei ihrer Performance «Rhythm 0», als sie sich widerstandslos von einem Besucher eine geladene Pistole vorhalten liess. 2010, während ihrer Performance «The Artist is Present» in New York, sass sie 75 Tage lang bewegungslos auf einem Stuhl und schaute täglich siebeneinhalb Stunden lang den Besucherinnen und Besuchern in die Augen. Eine unbeschreibliche Tortur. 

Die göttliche und die bösartige Künstlerin am Kreuz

850'000 Menschen besuchten sie und ihre Ausstellung damals im Museum of Modern Art in New York. Das brach alle Rekorde, machte sie sozusagen zu Lebzeiten als Künstlerin unsterblich. In dem preisgekrönten Dokumentarfilm zu «The Artist is Present» sagt sie, das Härteste, was man erfahren könne, sei nichts zu tun und den Schmerz im Hier und Jetzt auszuhalten: «Das ist das Kreuz, das ich trage. Gott helfe mir, das zu tun.» 

Hier zeigt sich eine der Hauptbotschaften von Abramovićs umfangreichem Werk: Wer durch die Tür des Schmerzes geht, erreicht einen anderen Bewusstseinszustand, erneuert sich. Da tun sich natürlich Parallelen auf zum Kreuz und seinem christlichen Symbolgehalt. Den hinterfragt sie nun mit ihrer Kreuzesinstallation in der Wasserkirche eindringlich, indem sie den Besucherinnen und Besuchern eine Kreuzeserfahrung der anderen Art präsentiert.

In «Four Crosses» hat die Künstlerin ihre eigene Bilderwelt von Gut und Böse geschaffen, indem sie sich selbst als göttlich (divine) und boshaft (evil) inszeniert. Die vier leicht in den Kirchenraum geneigten Kreuze zeigen je neunmal das Gesicht Abramovićs, das jeweils von hinten mit LEDs ausgeleuchtet in den Raum strahlt. Vorn ist die göttliche Abramović zu sehen, links ihr Gesicht in neun Positiven, rechts vom Taufbecken neunfach als fotografisches Negativ gespiegelt. 

Kunst schafft Bewusstsein

Wer den Kirchenraum betritt, sieht also zuerst das göttliche Bild der Frau, die zwei Kreuze mit den bösartigen Fratzen sind noch im Rücken verborgen. Frau Abramović, können wir also aufs Göttliche zugehen, das Böse hinter uns lassen? Auf die Frage, ob es denn eine Entwicklung hin zum Guten gebe, antwortete sie reformiert: «Ich glaube an das Gute im Menschen und daran, dass alles Negative in ihnen von schlechten Erfahrungen stammt.» 

Negativität könne in Positivität transformiert werden, dafür müsse aber erst einmal die Existenz von Gut und Böse in der Gesellschaft anerkannt werden, so ihre Botschaft. «Kunst kann zwar die Welt nicht verändern, aber sie kann Fragen stellen und in die richtige Richtung weisen und damit Bewusstheit bringen», sagt Marina Abramović. Four Crosses ist also als eine Art künstlerischer Fragebogen rund ums Kreuz zu verstehen. 

Was sind die Wertmassstäbe, Stereotypen in unseren Köpfen und woher haben wir sie übernommen, inwiefern unterwerfen wir uns ihnen? Was wäre, wenn wir die Bilder von uns, die andere zu Gesicht bekommen, selber bestimmen könnten – so wie die Künstlerin es tut? Indem wir ganz wir selber sind, mit all unseren positiven Sehnsüchten und negativen Emotionen, uns nackt und unverstellt zeigen, wie wir sind? Im tiefsten Schmerz, in glühender Wut, aber auch in der Freude und der Euphorie nach durchgestandenem Martyrium?

Das Kreuz als Denkanstoss

Marina Abramović wird nicht müde zu betonen, dass es das Publikum ist, welches aus einer Performance ein Kunststück macht. «Für mich ist die Reaktion der Besucherinnen und Besucher entscheidend. Diese müssen ihre eigenen Interpretationen und Projektionen mitbringen – das ist es, was die Arbeit vervollständigt.» Auch im Audioguide zur Ausstellung im Kunsthaus wiederholt sie mehrmals den Satz: «Gebt mir eure Zeit, und ich gebe euch eine Erfahrung.»

Wer vertieft in die Installation in der Wasserkirche eintaucht, ist nicht davor gefeit, sich auch den grossen Glaubensfragen zu stellen: «Jedes christliche Kreuz zielt im Kern darauf ab, dass die Betrachtenden dieses auch auf sich beziehen, was es in Bezug auf sie, ihr Leiden und Leben bedeutet», gibt Grossmünsterpfarrer Martin Rüsch bei der Besichtigung zu bedenken.

Schliesslich verweise das Kreuz immer auf die christliche Grunderzählung, die Passionsgeschichte: «Ihre Botschaft ist, dass Menschen unentwegt Gewalt ausüben», sagt Rüsch. Die Passionserzählung führe das fundamentale Unrecht vor Augen, welches sich Menschen zufügten. «Das Kreuz macht den Schmerz, das Leiden transparent und offensichtlich. Und es erinnert auch die Verursacher des Leidens daran, dass sie sich permanent selber Gewalt antun.» 

Stahlharte militärische Zucht auf der einen ...

Die Grenzen des aushaltbaren Leidens auszuloten und zu erweitern, ist sozusagen der Kern des Werks der Performance-Künstlerin Marina Abramović (78). Seit 55 Jahren nutzt sie ihren Körper als künstlerisches Ausdrucksmittel und geht dabei weit über die Schmerz-Grenzen hinaus, auch beim Publikum. Längst hat sie ihr Ziel erreicht, die Performance in den Olymp der höchsten Künste zu heben. 

Der Urgrund der sie umtreibenden Thematik ist in ihrer Biografie und ihrer Prägung zu suchen. Ihre Eltern kämpften beide unter dem Partisanenführer Tito im zweiten Weltkrieg und wurden so zu jugoslawischen Nationalhelden. Der Glaube von Vater und Mutter Abramović galt nichts anderem als dem kommunistischen Klassenkampf; ihre Tochter wollten sie deshalb zu einer Kriegerin abhärten. Und so war Marinas Erziehung geprägt von Drill und Disziplin.

Von ihrer Mutter Danica bekam sie nie eine Umarmung. Viel später darauf angesprochen, sagte diese, sie habe Marina halt nicht verhätscheln wollen. Der heldenhafte Vater Vojin schmiss sie einmal ohne Vorwarnung auf einem See aus einem Boot und ruderte davon. Anscheinend um ihren Überlebenstrieb zu stählen – die kleine Marina konnte kaum schwimmen. Als sie es schaffte, den Vater im Ruderboot einzuholen, gab es nicht einmal Lob. 

... und Zuneigung und Wärme auf der anderen Seite

Ihre Grossmutter sprang ganz anders mit ihr um, bei ihr erfuhr sie Wärme und Fürsorge, die ihr im Elternhaus versagt blieben. «Meine Grossmutter war eine tiefreligiöse serbisch-orthodoxe Frau. In ihrer Familie gab es einen orthodoxen Patriarchen», sagt Abramović zu reformiert. Schon als kleines Mädchen folgte sie der Grossmutter in die Kirche. «Ich erlebte also von klein auf viele Rituale, in welchen das Kreuz eine Rolle spielte – die Arbeit 'Four Crosses' entsprang aus diesen Erinnerungen.» 

Die Sehnsucht nach Wärme und Akzeptanz auf der einen, und die erfahrene militärische Härte auf der anderen – dieser Zwiespalt, dieses Hin- und Hergerissensein zwischen den beiden Polen, bildet den Urgrund und Motor ihrer Kunst. In ihrem künstlerischen Manifest schrieb Abramović einst: «Künstler müssen Krieger sein». 

Kunst als grosses Reinemachen

Ende der 1990er Jahre verlegte die Kämpferin für die Kunst sich auf die künstlerische Reinigungsarbeit; etwa 1997, als sie an der Biennale in Venedig während vier Tagen einen Berg von stinkenden, blutigen Rinderknochen putzte und schrubbte, um an die ethnischen Säuberungen zu erinnern, die in den Kriegen der 1990e-Jahre auf dem Balkan stattfanden. Für dieses «Balkan Baroque» betitelte Werk erhielt sie den goldenen Löwen. 

Das Sauber- und Reinemachen spielt in ihrem Werk eine bedeutende Rolle. «Die Idee des Reinigens ist extrem wichtig für mich», sagt Abramović zu reformiert. Auch im übertragenen Sinn – das Säubern hat bei ihr immer auch eine meditative, ja spirituelle Komponente: «Es geht darum, einen leeren und sauberen Geisteszustand zu erreichen; dieser bildet die Plattform, auf der neue Arbeiten entstehen können.»

Leiden, Schmerz aushalten, Reinigungsarbeit an den Seelen von Lebenden und Verstorbenen – da kann leicht der Eindruck enstehen, dass Abramovićs Arbeit in ihrer Essenz sehr nah am Leiden Christi am Kreuz ist. Auf die Frage, ob ihre Säuberungs-Kunst nicht eigentlich christliches Gedankengut aufnehme, ja in ihrer Essenz eine christliche Praxis sei, winkt sie allerdings ab: «Es beinhaltet keineswegs nur die christliche Version des Reinigens. Viele alte Kulturen, etwas schamanische oder buddhistische Traditionen, kennen sehr starke Rituale, um Körper, Geist und Seele zu reinigen.» 

Von der Kriegerin zur Zeremonienmeisterin des Friedens

Dass ihr Werk einen starken spirituellen Kern hat, steht ausser Zweifel: Neben christlich-orthodoxen finden sich schon früh auch vedische, schamanische, buddhistische Spuren und Symbole in ihrem Werk. Nun, mit 78, scheint die Kriegerin Abramovic etwas altersmilde geworden, ja sie wird zur friedlichen Zeremonienmeisterin. Ihre Performances ähneln fast einer Art Grossgottesdienst: Im Juni 2024 stand sie beispielsweise am Glastonbury-Musik-Festival als grosses weisses Peacezeichen auf der Bühne und hielt die Besucherinnen an zu schweigen und bedingungslose Liebe in die Welt zu schicken. «It is the only way to change the world.» 250'000 Rockkonzertgäste hielten sich sieben Minuten lang schweigend in den Armen.

Martin Rüsch, der sich immer wieder als Pfarrer für den befruchtenden Dialog zwischen Kunst und Kirche engagiert, sagt: «Für mich ist das Werk von Abramović eine Folie, auf der wir Einiges über gegenwärtige Probleme lesen können, individuell und kollektiv: Es ist ein Schrei nach Liebe – all die Anerkennung, die Menschen suchen oder erreichen, kann nicht einen einzelnen Menschen ersetzen, der einen liebt.»

Übrigens: Auch Abramovićs Verhältnis zum Tod hat sich verändert. 1977, bei der Performance «Rhythm 0» war sie noch bereit zu sterben für die Kunst. Im Film The Artist is Present von 2012 sagt sie: «Ich bin nicht daran interessiert zu sterben.» Jetzt will sie 103 Jahre alt werden wie ihre Grossmutter. Kriegerin oder Liebende, Böse oder Göttliche – aufs Alter zeigt sich immer deutlicher, welchem der beiden Teile in sich sie mehr nachleben will. 

Marina Abramović: Four Crosses. Bis 5. Januar 2025, Wasserkirche, Zürich. Podium mit Kunsthaus-Kuratorin Mirjam Varadinis und Grossmünsterpfarrer Martin Rüsch: 5. Dezember, 18 Uhr. www.wasserkirche.ch

Marina Abramović: Retrospektive. Bis 16. Februar 2025, Kunsthaus Zürich. Verschiedene Begleitveranstaltungen. www.kunsthaus.ch