Dass ihr Werk einen starken spirituellen Kern hat, steht ausser Zweifel: Neben christlich-orthodoxen finden sich schon früh auch vedische, schamanische, buddhistische Spuren und Symbole in ihrem Werk. Nun, mit 78, scheint die Kriegerin Abramovic etwas altersmilde geworden, ja sie wird zur friedlichen Zeremonienmeisterin. Ihre Performances ähneln fast einer Art Grossgottesdienst: Im Juni 2024 stand sie beispielsweise am Glastonbury-Musik-Festival als grosses weisses Peacezeichen auf der Bühne und hielt die Besucherinnen an zu schweigen und bedingungslose Liebe in die Welt zu schicken. «It is the only way to change the world.» 250'000 Rockkonzertgäste hielten sich sieben Minuten lang schweigend in den Armen.
Martin Rüsch, der sich immer wieder als Pfarrer für den befruchtenden Dialog zwischen Kunst und Kirche engagiert, sagt: «Für mich ist das Werk von Abramović eine Folie, auf der wir Einiges über gegenwärtige Probleme lesen können, individuell und kollektiv: Es ist ein Schrei nach Liebe – all die Anerkennung, die Menschen suchen oder erreichen, kann nicht einen einzelnen Menschen ersetzen, der einen liebt.»
Übrigens: Auch Abramovićs Verhältnis zum Tod hat sich verändert. 1977, bei der Performance «Rhythm 0» war sie noch bereit zu sterben für die Kunst. Im Film The Artist is Present von 2012 sagt sie: «Ich bin nicht daran interessiert zu sterben.» Jetzt will sie 103 Jahre alt werden wie ihre Grossmutter. Kriegerin oder Liebende, Böse oder Göttliche – aufs Alter zeigt sich immer deutlicher, welchem der beiden Teile in sich sie mehr nachleben will.
Marina Abramović: Four Crosses. Bis 5. Januar 2025, Wasserkirche, Zürich. Podium mit Kunsthaus-Kuratorin Mirjam Varadinis und Grossmünsterpfarrer Martin Rüsch: 5. Dezember, 18 Uhr. www.wasserkirche.ch
Marina Abramović: Retrospektive. Bis 16. Februar 2025, Kunsthaus Zürich. Verschiedene Begleitveranstaltungen. www.kunsthaus.ch