Glaube 26. April 2024, von Hans Herrmann

Wortmeditationen im Geist des Mystikers Meister Eckhart

Literatur

Der Berner Theologe und Mystik-Kenner Jürg Welter legt einen Lyrikband vor, der den Titel «Resignation» trägt. Deprimierend? Nein – inspirierend. Und voll vom Geheimnis der Mystik.

Da ist dieser optisch und haptisch ansprechende Band, fast 200 Seiten, handlich im Format und griffig im Papier. Der fast packpapierartige Umschlag ist in einem sanften Rosa getönt, und darauf steht nur der Titel des Buches: Resignation.

Das jüngst erschienene Buch enthält Gedichte, dazu acht Zeichnungen mit abstrakten, fliessenden, an natürliche Strukturen erinnernde Zeichnungen von Béatrice Gysin in einem grau gebrochenen Olivton. Im selben Ton ist auch die Schrift gehalten; es ist die sogenannte Mercure von Abyme, deren Designer an früheren englischen Bibelausgaben mitwirkte.

Momente der Kontemplation

Dieser kirchliche Bezug ist alles andere als zufällig. Die Gestaltung des Bandes erfolgte mit grösster Bedachtsamkeit. Wie die Bibel von Religion und Spiritualität handelt, haben auch die im rosa Buch enthaltenen Gedichte eine religiöse und spirituelle Komponente. Nicht im engeren, dogmatischen Sinn, sondern nach Art der Mystiker: Es geht um ein Erahnen des Numinosen, Transzendenten, Göttlichen aus der Inspiration des Moments heraus. Entsprechend sind die Gedichte von Jürg Welter – um den Namen des Autors nun endlich zu nennen – verdichtete Momente der Kontemplation, kleine Wortmeditationen, flüchtige und doch einprägsame Eindrücke des Unfassbaren.

Gedicht

Im Bodenlosen
will ich Wurzeln schlagen
und Gott auferstehen lassen.
Mehr noch:
Zulassen seinen Zorn
und seine Gnade lassen.
Er wird mich anrühren,
ohne die Hand auf mich zu legen,
sein Schweigen wird mich aufnehmen.

Und immer wieder, wie ein Leitmotiv, taucht im Buch das Überraschende auf: manchmal still, manchmal kühn, zuweilen im Gewand des Gegensätzlichen oder gar Paradoxen, oft spielend mit dem Nichts, das zugleich Urgrund alles Seienden ist. «Im Bodenlosen will ich Wurzeln schlagen», heisst es etwa in einem Gedicht. Und in einem anderen: «Untröstlich, lachend und heiter, ruhig und gelassen lass ich mich töten von nichts.» Oder: «Wenn im Schlaf der Dinge die Stille anschwillt, höre ich Gottes Schweigen.»

Wenn ich mein Gefäss mit neuem Inhalt füllen will, muss ich es zuerst leeren.
Jürg Welter

Zu Hause im Wohnzimmer bei Jürg Welter. Gerade hat er durch ein Missgeschick etwas Kaffee auf die Tischplatte vergossen. «Das ist symbolisch», sagt er mit feinem Lächeln. «Wenn ich mein Gefäss mit neuem Inhalt füllen will, muss ich es zuerst leeren.» Wie der Mystiker, der die Leere anstrebt, um in ihr die Fülle zu erfahren.

Folgenreiche Lektüre

Mit Religion und Mystik machte Jürg Welter bereits als Junge erste Erfahrungen. Sein Vater las Werke des deutschen Autors Joseph Anton Schneiderfranken (1876–1943), der unter dem Federnamen Bô Yin Râ im Stil von Mantras gedichtähnliche Meditationen zur geistigen Erweckung verfasste. Auch Jürg Welter, damals noch im Bubenalter, wagte sich an Lektüre dieser Art.

Später dann, während seines Theologiestudiums, stand anderes im Vordergrund, politische oder feministische Theologie etwa. Bis Jürg Welter während eines Studienurlaubs wieder mit der Mystik in Berührung kam und definitiv Feuer fing. Seine intensive Beschäftigung mit dem deutschen Theologen und Mystiker Meister Eckhart (ca. 1260–1328) führte schliesslich dazu, dass er jedes Jahr im Kloster Erfurt, wo Eckhart gewirkt hatte, ein Meditationsseminar durchführte und hierzu auch eigene lyrische Betrachtungen beisteuerte. Die Form der Wortmeditation brachte er auch in seine Arbeit als Gemeindepfarrer ein.

Eingebung im Schlaf

«Diese Art von christlicher Spiritualität stiess bei den Leuten auf gute Resonanz, weil sie es ermöglicht, sich fern vom dogmatischen Christentum individuell dem Geheimnis des Göttlichen zu nähern», berichtet Welter, bei dem sich im Lauf der Jahrzehnte ein stattlicher Bestand an eigenen Gedichten ansammelte, entstanden aus der Auseinandersetzung mit Eckhart, aber auch mit Goethe, Hölderlin und anderen Literaten. Weitere Inspirationsquellen waren die Bibel und eigene Notizen.

Was schliesslich zur Entstehung eines Gedichts führt, lässt sich schwer vorhersagen; je nachdem ist es ein Gedanke zur Weltlage, eine Naturbeobachtung oder etwas anderes. «Auch Träume können eine Rolle spielen», sagt Jürg Welter. So habe er zum Beispiel einmal geträumt, wie eine Stimme zu ihm sprach: «Gott ist die Höhle des Nichts.» Eine bildhafte Eingebung, deren Aussagekraft bei Jürg Welter bis heute nachhallt.

Gedicht

Leicht im Licht
schweben
und funkeln
die Mücken.

Oktobermücken
leicht im Licht
im Weinmonat
leicht schwebend.

Im Oktoberlicht
funkeln
die Mücken
vor dem Schnee.

Der Wunsch, er möge seine Erkenntnisse und Meditationen zu Meister Eckhart in geeigneter Form veröffentlichen, wurde verschiedentlich laut, aber Welter fragte sich: Braucht es bei all den Büchern über Eckhart wirklich noch ein Buch mehr? Deshalb entschied er sich schliesslich für einen Lyrikband, in dem der deutsche Mystiker zwar geistiger Kristallisationspunkt und mentaler Tonangeber ist, ansonsten aber nicht in Erscheinung tritt.

Die eigentliche Hommage an Meister Eckhart ist aber das Wort «Resignation», also der Titel des Gedichtbands. «Resignation – der Titel provoziert, weil er an eines der wenigen Tabus unserer Zeit rührt. (...) Resignieren gehört sich nicht, denn wer resigniert, wird zum Sand im Getriebe des Fortschritts und des Wachstums», schreibt der Autor im Nachwort. So werde «resignieren» zum Reizwort und gleichgesetzt mit Apathie, Frustration, Hoffnungslosigkeit. Bei Meister Eckhart bedeute «Resignation» hingegen «Gelassenheit» – im Sinne einer radikalen Selbstaufgabe, eines Sich-Lösens von Bildern und Vorstellungen. «Hier wird Resignation zu einer Übung im Aufhören, im Verzichten, sie wird zu einer Lebenskunst.» Und, letztlich – zu einem Mittel der Befreiung.

Resignation, Lyrikband. Mit Gedichten von Jürg Welter und Zeichnungen von Béatrice Gysin. Verlag Liberati, 2024.

Jürg Welter, 74

Jürg Welter, 74

Er studierte in Bern und Göttingen Theologie. Im Pfarramt war Jürg Welter zuerst in Aetingen, dann in Wohlen und schliesslich bis zu seiner Pensionierung als Münsterpfarrer in Bern. In der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre begann er, alljährlich im Kloster Erfurt Wortmeditationen im Geist des grossen Mystikers Meister Eckhart, der in diesem Kloster gewirkt hatte, durchzuführen. Heute lebt Welter mit seiner Frau in Allmendingen bei Bern.