Das Gute ist nicht verhandelbar

Leitartikel

Die Jahreslosung passt in eine Zeit des Umbruchs und verlangt den Mut zur Veränderung. Und sie steht für die Gewissheit, dass das Gute stets erkannt und getrost getan werden kann.

Die Jahreslosung spricht in eine Zeit des Umbruchs und der Un­gewissheit: «Prüft aber alles, das Gute behaltet!» (Thess 5,21). Wie die ersten Christinnen und Christen, an die der Apostel Paulus schreibt, um die Ausrichtung ihrer Gemeinde ringen, scheinen zurzeit Machtverhältnisse ins Rutschen zu geraten. 

In Syrien fällt eine grausame Diktatur und hinterlässt ein Machtvakuum, das mit der Hoffnung auf Freiheit und einen demokratischen Neuanfang gefüllt wird, aber auch mit der Angst um religiöse Minderheiten wie die Christen und vor einer Rückkehr des Dschihadismus. 

Die Rüstung der Liebe

Alles zu prüfen und das Gute zu be­halten, klingt gut. Nur: Was ist das Gute? Können gewaltsame Umstürze Gutes bewirken? Gilt es tatsächlich, das Böse zu meiden «in jeder Gestalt» (Thess 5,22) oder ihm vielmehr entschlossen entgegenzutreten um den Preis, zuweilen nicht das Gute, aber das Not­wendige zu tun? Woran lässt sich erkennen, was gut ist, wenn sämtliche Gewissheiten wanken, weil zuerst alles geprüft und für gut befunden werden muss? Die Verlockung liegt nahe, all das als gut zu bezeichnen, von dem man glaubt, dass es sich im Rückblick als gut oder immerhin als weniger schlecht erweisen wird. 

Solcher Relativismus ist dem Evangelium fremd. Paulus lässt keinen Zweifel daran, mit welchem unverhandelbaren Wertekompass Christinnen und Christen ausgerüstet sind: «Wir aber wollen nüchtern sein, angetan mit dem Panzer des Glaubens und der Liebe und mit dem Helm der Hoffnung auf Rettung» (Thess 5,8). 

Der Welt ein Segen sein

Einer, der in dunkelsten Zeiten am Guten festhielt und nach reiflicher Prüfung das Notwendige nicht scheute, war der Theologe Diet­rich Bonhoeffer (1906–1945). Der Pazifist beteiligte sich am Widerstand gegen Adolf Hitler, weil er überzeugt war, dass das Gebot, nicht zu töten, dazu verpflichtet, den Massenmord zu verhindern. Das Attentat auf Hitler scheiterte, Bonhoeffer wurde kurz vor Kriegsende im Konzentrationslager Flossenbürg ermordet. 

Bonhoeffer, dessen Theologie die Bergpredigt ins Zentrum stellte, wusste sich in der Nachfolge Christi und lernte im Widerstand zugleich Menschen kennen, die mutig das Richtige taten, ohne sich als Christen zu verstehen. Ihn bewegte deshalb «unablässig die Frage, was das Christentum oder auch wer Christus heute für uns eigentlich ist», wie er 1944 im Gefängnis von Berlin Tegel schrieb. Die gleiche Frage trieb die Gemeinde um, an die Paulus schrieb und die sich erst langsam zur Kirche zu verfestigen begann.

Weil das Evangelium von einem der ganzen Welt zugewandten Gott erzählt, kann es für Bonhoeffer auch nur eine der ganzen Welt zugewandte Kirche geben, die das Gute bewahrt. «Vom Segen Gottes und der Gerechten lebt die Welt», schreibt Bonhoeffer im Juni 1944. Es gehe nicht darum, die Welt zu verurteilen, sondern sie als trotz allem zu Gott gehörig anzunehmen. «Wir verlassen sie nicht, wir verwerfen, verachten, verdam­men sie nicht, sondern wir rufen sie zu Gott, wir geben ihr Hoffnung.» 

Wunderbar geborgen

Mit Blick auf Weihnachten und Neujahr schrieb Dietrich Bonhoeffer vor 80 Jahren im Kellerge­fängnis an der Prinz-Albrecht-Strasse in Berlin seinen berühmten und berührenden Segen: «Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag. Gott ist bei uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag.» 

Die Zeilen klingen wie ein Echo auf die Metapher vom Panzer der Liebe, der durchlässig bleibt für die Not der Welt und zugleich auf wunderbare Weise schützt vor der Verzweiflung. Der Gefangene schreibt in seinem Begleitbrief zum Gedicht an Maria von Wede­meyer, er habe sich in seiner Zelle «noch keinen Augenblick allein und verlassen gefühlt». Ein «grosses unsichtbares Reich» hält geborgen, in dem auch das Ferne und Vergangene gegenwärtig wird: «Eure Gebete und guten Gedanken, Bibelworte, längst vergangene Gespräche, Musikstücke, Bücher bekommen Leben und Wirklichkeit wie nie zuvor.»  

Was in der Gemeinschaft, in Familie, Beziehung und Freundschaft an Liebe erfahren wird, schenkt Kraft und lässt das Gute leuchten, auch noch in der dunklen Stunde der Einsamkeit und des Todes. 

Gott in Menschengestalt

Was nötig ist, damit der Umbruch bewältigt und Frieden gestiftet, Demokratie ermöglicht und die Freiheit bewahrt werden kann, gilt es zu debattieren, zu verhandeln, zu prüfen. Das Gute aber ist nicht verhandelbar. 

Was das Gute ist, wird deutlich im Blick auf Jesus, der das Gute als Tätigkeitswort versteht: «Was ihr einem dieser meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan» (Mt 25,40). Aus diesem Auftrag zog Bonhoeffer die Gewissheit, dass es keinen Ort gibt in dieser Welt, an dem Gott nicht ist und das Gute nicht getan werden kann: «Nicht die unendlichen, unerreichbaren Aufgaben, sondern der jeweils gegebene, erreichbare Nächste ist das Transzendente. Gott in Menschengestalt.»