Glaube und religiöse Praxis rückläufig – Freikirchen erfreut

Statistik

Immer weniger Menschen in der Schweiz besuchen Gottesdienste und glauben an Gott. Die Freikirchen freuen sich trotzdem.

Eine langjährige Entwicklung setzt sich fort: In der Schweiz gehören immer weniger Menschen einer Religion an. Immer weniger üben religiösen Praktiken aus – vor allem der Besuch von religiösen Veranstaltungen oder Gottesdiensten hat im Vergleich zu vor zehn Jahren deutlich abgenommen. Und immer weniger Menschen glauben an Gott. Das ist selbst bei jenen so, die sich zu einer Religion bekennen. 

Zu diesen Befunden kommt das Bundesamt für Statistik (BFS) aufgrund der Erhebung zu Sprache, Religion und Kultur. Sie wurde 2024 durchgeführt, zehn Jahre nach der letzten Befragung im Jahr 2014. Das BFS hält aber auch fest: Haben es Menschen im Leben schwierig oder sind sie krank, spielen Religion oder Spiritualität weiterhin für die Mehrheit der Bevölkerung eine Rolle.

Zugenommen hat die Lektüre

Etwas konkreter bedeuten die Erkenntnisse: Im Jahr 2014 besuchten erst knapp ein Drittel der Bevölkerung in den zwölf Monaten vor der Befragung nie eine religiöse Veranstaltung oder einen Gottesdienst. Zehn Jahre später waren es bereits die Hälfte. Zugenommen hat gemäss dem Bundesamt für Satistik die «regelmässige Lektüre spiritueller Bücher, Zeitschriften oder Beiträge im Internet», und zwar von 13 im Jahr 2014 auf 20 Prozent zehn Jahre später.

Die Qualität einer Glaubensgemeinschaft zeigt sich in den individuellen Erfahrungen der Menschen.
Peter Schneeberger, Präsident Dachverband Freikirchen.ch

Und während vor zehn Jahren 46 Prozent der Bevölkerung an einen einzigen Gott glaubten, waren es 2024 noch 38 Prozent. Eher überraschend mutet dabei an: Die Abnahme ist vorab bei Menschen ab 65 Jahren festzustellen. Bei den unter 25-Jährigen dagegen hat sich der Anteil von Gläubigen kaum verändert. Gleichzeitig hat der Anteil jener zugenommen, die weder an einen noch an mehrere Götter glauben – und zwar sowohl bei der Bevölkerung mit römisch-katholischer (von 20 auf 26 Prozent) als auch evangelisch-reformierter Religionszugehörigkeit (von 23 auf 32 Prozent).

Freikirchen «gegen den Trend»

Freude herrscht trotz den Zahlen beim Dachverband Freikirchen.ch. Und zwar, weil «die Freikirchen in der Studie erstmals namentlich erwähnt werden und sich im religiösen Verhalten gegen den Trend entwickeln», wie es in einer Mitteilung heisst. Ebenso freue es den Verband, dass rund 40 Prozent der Bevölkerung gemäss der aktuellen BFS-Umfrage mindestens monatlich beten und dass demnach «Religion und Spiritualität bis heute für einen grossen Teil der Bevölkerung im Alltag eine wichtige Rolle spielen».

Die Freikirchen würden sich gegen den Trend entwickeln, hält der Dachverband zudem fest. Schon mal bleibe das Christentum trotz einer rückläufigen Tendenz in der Schweiz die am stärksten verbreitete Religion. Und «der Anteil von Freikirchen – inklusive anderer evangelischer und übriger christlicher Gemeinschaften – belief sich konstant auf 6 Prozent». Weiter sei «erstaunlich», dass gut die Hälfte der Bevölkerung der Aussage eher oder ganz zustimmt, «mehr spirituelles Denken würde der Gesellschaft gut tun».

Positive Wirkungen durch «Prägekraft der Bibel»

Die Erhebung zeige, dass das Christentum und die Moderne keine Gegensätze seien, sagt Peter Schneeberger auf Anfrage. Der Präsident von Freikirchen.ch findet auch erfreulich, dass spirituelle Äusserungen wie Beten oder Bibellesen sogar zugenommen hätten. «Die Qualität einer Glaubensgemeinschaft zeigt sich in den individuellen Erfahrungen der Menschen», betont Schneeberger. Die «Prägekraft der Bibel und die Nähe zu Gott durch das Gebet» würden positive Wirkungen zeigen wie etwa Nächstenliebe, Gerechtigkeit oder Versöhnung. 

Ich wünsche mir daher eine Gesellschaft, welche die Schönheit des christlichen Glaubens wieder entdeckt.
Peter Schneeberger, Präsident Dachverband Freikirchen.ch

Peter Schneeberger sagt: «Ich erlebe eine Gesellschaft, die vereinsamt und laut dem Hoffnungsbarometer 2024 immer weniger von Hoffnung getrieben ist. Ich wünsche mir daher eine Gesellschaft, welche die Schönheit des christlichen Glaubens wieder entdeckt.» Der Dachverband Freikirchen.ch ist überzeugt, dass die gute Nachricht Gottes ein Hoffnungsschimmer für unser persönliches Leben und unser Land sei. Daher würden sie diese Botschaft weiterhin «mit grosser Freude in Wort und Tat» verkündigen.

Die Abnahme des Gottesdienstbesuches in christlicher Tradition mache zwar betroffen, räumt der Präsident des Dachverbandes ein. «Das christliche Ökosystem braucht daher wieder eine ganz neue Rückbesinnung ihres innersten Wertes, den Menschen zu verhelfen eine Beziehung zu Gott zu finden», findet Schneeberger. Daher sehe Freikirchen.ch im Rückgang der christlichen Grundsubstanz eine Herausforderung, die guten Seiten einer gemeinschaftlichen spirituellen Ausübung zu betonen und den Menschen einen sicheren Ort der Religionsausübung zu gewährleisten.

Menschen im Alltag ansprechen

Stephan Jütte, bei der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (EKS) Leiter der Kommunikation und des Kompetenzzentrums Theologie und Ethik, sieht zwei parallele Entwicklungen: «Einerseits eine fortschreitende Säkularisierung, durch die Religion im öffentlichen Leben weniger sichtbar wird. Andererseits eine starke Individualisierung, bei der Menschen religiöse Themen zunehmend nach ihren persönlichen Bedürfnissen und Möglichkeiten gestalten.» Für die Reformierten bedeute das, dass es entscheidend sei, neue und flexible Zugänge zu schaffen, um Menschen dort anzusprechen, wo sie in ihrem Alltag stehen, und ihnen zeitgemässe spirituelle Angebote anzubieten.

Reformierte Glaubenspraxis war schon immer stärker individuell geprägt und weniger an traditionelle Formen und Rituale gebunden.
Stephan Jütte, Leiter Kommunikation und Kompetenzzentrum Theologie und Ethik der EKS

Dass sich von den Reformierten der Landeskirchen nur 42 Prozent als religiös bezeichnen im Gegensatz zu den katholischen (53 Prozent), muslimischen (66 Prozent) und freikirchlichen (74 Prozent) Gläubigen, überrascht den Theologen nicht. «Reformierte Glaubenspraxis war schon immer stärker individuell geprägt und weniger an traditionelle Formen und Rituale gebunden.» Und dass die Reformierten in ihrer Selbstwahrnehmung nahe am schweizerischen Bevölkerungsdurchschnitt liegen, entspreche den Erwartungen der EKS und spiegle eine spezifisch reformierte Haltung wider, bei der persönliche Freiheit und kritische Reflexion zentrale Elemente des Glaubens seien.

Verantwortung für Umwelt wahrnehmen

Für Stephan Jütte zeigt die Statistik aber auch, warum Religion und Spiritualität nach wie vor für viele wichtig sind – und wo Reformierte persönliche Ressourcen finden. In schwierigen Lebensmomenten seien Menschen mit den Grenzen menschlicher Kontrolle und Machbarkeit konfrontiert. «In solchen Momenten wird die Suche nach Sinn, Trost und Gemeinschaft besonders relevant», sagt der Theologe. Genau dafür böten Spiritualität und Religion eine Sprache und Gemeinschaftserfahrungen, die helfen könnten.

Und: «Als reformierte Kirche engagieren wir uns aktiv für Nachhaltigkeit und Umweltschutz. Dabei orientieren wir uns an der christlichen Überzeugung, dass die Erde Gott gehört und uns nur anvertraut ist.» Schliesslich sei wahrzunehmen, dass gerade Spiritualität und religiöse Werte für viele Menschen eine motivierende Kraft bei umweltbewusstem Handeln seien. «Diese Verantwortung ernstzunehmen und praktisch umzusetzen, sehen wir als wesentlichen Teil unserer gesellschaftlichen Rolle», hält Stephan Jütte fest.