Glaube 24. Juni 2024, von Sandra Hohendahl-Tesch

«Die Auferstehung hat das letzte Wort»

Reformation

WGRK-Präsidentin Najla Kassab spricht über Gleichberechtigung, die Situation der Christinnen und Christen in Nahost und ihre Hoffnungen in einer zersplitterten Welt.

Auf Boldern wird über weltweit reformierte Identität diskutiert. Gibt es eine solche überhaupt und wie lässt sie sich umschreiben?

Die Weltgemeinschaft reformierter Kirchen umfasst heute 100 Millionen Christinnen und Christen aus reformierten Traditionen. Sie teilen eine gemeinsame Identität und akzeptieren zugleich diverse Identitäten. Identität ist hier nicht einheitlich, sondern beinhaltet gemeinsame Elemente über alle Variationen hinweg. Zum Beispiel ist die fortlaufende Reformation ein grundlegender Ansatz zur Gestaltung der Identität, indem ständig nach Anpassung an unsere Kontexte gesucht wird.

Was heisst das konkret?

Die Ökumene ist ein integraler Bestandteil des reformierten Seins – ein gemeinsames Identitätsmerkmal, das uns verpflichtet, für andere zu leben, nicht nur für uns selbst. Deshalb engagieren wir uns in Diensten, Schulen und im Gesundheitswesen. Dennoch entwickeln wir in unserem Kontext auch individuelle Identitäten neben der gemeinsamen Identität. Diese dynamische Auffassung ist entscheidend für uns.

Bei ihrer Wahl zur WGRK-Präsidentin 2017 haben Sie zum Ziel erklärt, dass bis 2024 sämtliche Mitgliederkirchen Frauen als Pfarrerinnen ordinieren. Ist dies gelungen?

Ja und Nein. Zurzeit gibt es  mehr als 42 Kirchen, die dies nicht tun, hauptsächlich in Afrika und Asien. Wir können die Ordination von Frauen nicht erzwingen, aber wir begleiten diese Kirchen auf ihrem Weg. Wir haben eine Koordinatorin für Geschlechtergerechtigkeit ernannt und führen Geschlechteraudits durch, um den Platz der Frauen in der Kirche zu bewerten. Es ist ein Prozess, und obwohl wir auf dem richtigen Weg sind, braucht es Zeit, damit die Veränderungen real und nachhaltig sind.

Die Ökumene verpflichtet uns, für andere zu leben, nicht nur für uns selbst.

Jeweils am 14. Juni findet in Zürich der feministische Frauenstreiktag statt. Frauen gehen für Themen wie Lohngleichheit oder mehr Respekt für Care-Arbeit auf die Strasse. Wie ist die Situation in ihrem Heimatland Libanon in Bezug auf Gleichberechtigung? 

In der Öffentlichkeit ist die Situation besser als in der Kirche. Zum Beispiel habe ich zwei Töchter, eine im medizinischen Bereich und eine im Bankwesen. Sie werden gleich bezahlt und sind respektiert. Dennoch gibt es in unserem Land viele Gesetze, bei denen Frauen noch benachteiligt sind, etwa bei der Kindesfürsorge nach einer Scheidung. Ein weiteres Problem ist, dass Frauen ihren Kindern keine Staatsbürgerschaft verleihen können, das können nur die Väter. In ganz Nahost ist dies einzig in Tunesien seit 2017 anders. Das sind einige der Themen, für die wir kämpfen.

Die Evangelisch-methodistische Kirche erlaubt seit Mai 2024 gleichgeschlechtliche Ehen und lässt Queere zu kirchlichen Ämtern zu – ein historischer Entscheid. Sind Ihnen die Rechte von LGBTQ-Menschen ein wichtiges Anliegen?

Als Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen sitzen wir an einem Tisch mit vielen unterschiedlichen Meinungen zur Sexualität. Einige Kirchen betrachten Homosexualität als Sünde, während andere gleichgeschlechtliche Paare trauen und homosexuelle Pastoren ordinieren. Diese Vielfalt spiegelt die unterschiedlichen Kontexte in verschiedenen Ländern wider. Es ist uns wichtig, die Würde jedes Menschen zu respektieren und gegen Gewalt an Homosexuellen zu sprechen. Der Papst hat kürzlich gesagt, dass er Homosexuelle segnen wird, weil sie ebenso wie alle anderen Mitglieder der Gemeinde respektiert werden sollten. Wir müssen offen sein, ihren Schmerz zu hören und ihnen mit der gleichen Achtung zu begegnen, wie es Christus tun würde.

Sie leben mit ihrem syrischen Mann, Joseph Kassab, und drei Kindern in Beirut. Wie hat der Krieg in Nahost Ihren Alltag verändert?

Leider bin ich inmitten des Krieges aufgewachsen. Es ist keine neue Situation, sondern begleitet mich schon seit vielen Jahren. Ich habe den libanesischen Bürgerkrieg erlebt, den syrischen Konflikt und die andauernden Spannungen zwischen Israel und Palästina. Frieden habe ich nie erlebt, und ich hoffe, dass ich noch vor meinem Tod Frieden im Nahen Osten sehen werde. Die Situation der Flüchtlinge, sowohl aus Palästina als auch aus Syrien, ist eine grosse Herausforderung für uns. Wir sehnen uns alle nach Frieden, aber leider erleben wir derzeit mehr Aggressionen, besonders im Kontext des israelisch-palästinensischen Konflikts. Ich glaube fest daran, dass Diplomatie und Verhandlungen, nicht Krieg, die Probleme lösen können.

Es ist uns wichtig, die Würde jedes Menschen zu respektieren und gegen Gewalt an Homosexuellen zu sprechen.

Wie ist die Situation der Christen im Libanon?

Die Christen im Libanon sind heute eine Minderheit, obwohl sie früher etwa die Hälfte der Bevölkerung ausmachten. Trotz ihrer geringeren Zahl sehen wir uns als wichtige Vermittler für Versöhnung und Frieden im Land. Unsere Gemeinschaft spielt eine bedeutende Rolle im Bildungsbereich und fördert aktiv das Zusammenleben von Christen und Muslimen in unseren Schulen. Trotz der Herausforderungen durch politische Instabilität und Konflikte setzen wir uns für Dialog und gegenseitiges Verständnis ein, um zu einer harmonischen Gesellschaft beizutragen.

Der Einfluss der Hisbollah-Miliz hat sich aufgrund der Konfrontation mit Israel, zu der auch Scharmützel gehören, erheblich verstärkt. Sind Christen da nicht im Kreuzfeuer gefangen? 

Die Einflussnahme der Hisbollah-Miliz hat aufgrund der Konfrontation mit Israel zugenommen. Die Situation für Christen ist besorgniserregend, da sie oft die Leidtragenden sind, wenn Konflikte eskalieren. Der Krieg mag auf den ersten Blick gegen Hamas oder die Hisbollah gerichtet sein, aber letztlich sind es Zivilisten, die den höchsten Preis zahlen. Der internationale Druck, den Krieg zu beenden, ist stark spürbar, doch politische Spannungen und Wahlen in Israel erschweren jede Form von Verhandlungen oder diplomatischen Lösungen. Wir sind der Überzeugung, dass langfristiger Frieden nur durch Dialog und Diplomatie erreicht werden kann, nicht durch weitere militärische Eskalationen.

In Folge des Angriffs der Hamas auf Israel vom 7. Oktober 2023 wurde die WGRK namentlich von deutscher Seite scharf kritisiert, weil sie in einer Stellungnahme zu wenig klar Position für Israel bezogen habe. Wie stehen Sie heute dazu?

Als Gemeinschaft haben wir lange Zeit mit den Palästinensern mitgefühlt, lange bevor die Ereignisse vom 7. Oktober 2000 eintraten. Wir erkennen das anhaltende Leid, dem sie ausgesetzt sind. Unsere Solidarität mit den Palästinensern bedeutet nicht, dass wir uns gegen andere stellen. Wir waren schockiert über die Ereignisse vom 7. Oktober, da sie weiteres Leid brachten, ohne die zugrunde liegenden Probleme zu lösen. Seitdem ist der Fortschritt ins Stocken geraten, was zu anhaltendem Verlust von Menschenleben auf beiden Seiten führt.

Wie rechtfertigen Sie Ihre Solidarität mit den Palästinensern trotz der Kritik, dass diese Position als mangelnde Unterstützung für Israel interpretiert werden könnte?

Unser Engagement gilt allen Leidenden, besonders aber denen, deren Stimmen ungehört bleiben – aktuell den Palästinensern. Ihre Situation ist ein langer Weg des Leids. Wir streben nach einer friedlichen Lösung, die Sicherheit und Würde für Kinder auf beiden Seiten gewährleistet. Die Palästinenser, als die schwächere Partei, tragen eine unverhältnismässige Last, aber wir erkennen an, dass auch israelische Familien leiden. Die Hauptursache – der Wunsch nach staatlicher Souveränität – unterstreicht unsere Unterstützung für eine Zwei-Staaten-Lösung, die gegenseitigen Respekt und Frieden in der Region fördert.

Wir streben nach einer friedlichen Lösung, die Sicherheit und Würde für Kinder auf beiden Seiten gewährleistet.

In Zeitungsberichten wird immer wieder von der kollabierenden Wirtschaft und der galoppierenden Inflation im Libanon gesprochen. Es wird auch berichtet, dass Korruption ein grosses Problem darstellt. Wie ernst ist die Lage im Land wirklich?

Korruption ist ein weit verbreitetes und schwerwiegendes Problem im Libanon, das stark zur wirtschaftlichen Krise des Landes beiträgt. Trotz des hohen Bildungsniveaus in der Bevölkerung gelangen oft Menschen ohne moralische Integrität in Machtpositionen, was die Situation verschärft. Die Kirche nimmt eine klare Haltung gegen Korruption ein und strebt danach, ein Vorbild für Transparenz und ethisches Handeln zu sein. Besonders wichtig ist es, eine Generation heranzubilden, die sich für Rechtsstaatlichkeit und gegen Korruption einsetzt, um die Zukunft des Libanon positiv zu gestalten.

Christinnen und Christen sehen sich in Ländern wie Libanon, Syrien, Irak, Jordanien und Ägypten immer wieder mit Verfolgung und Unterdrückung konfrontiert. Wie erleben sie die Situation?

Christen in Ländern wie Libanon, Syrien, Irak, Jordanien und Ägypten stehen oft vor der Herausforderung, inmitten aller Unterdrückungen und Leiden im Nahen Osten zu überleben und zu bleiben. Die Situation ist geprägt von Sorge um die Zukunft und der Möglichkeit, dass Christen den Nahen Osten verlassen. Insbesondere in Zeiten wirtschaftlicher Schwierigkeiten und fehlender Perspektiven denken viele darüber nach. Dennoch ist es uns ein Anliegen, dass Christen im Nahen Osten bleiben, um lebendige Gemeinschaften zu erhalten und weiterhin einen positiven Beitrag für die Gesellschaft  zu leisten. Einige Kirchen sind trotz allem stärker geworden, insbesondere durch ihren Einsatz und ihre Hingabe für die Menschen vor Ort. Die Kirchen in Palästina, Libanon und Syrien bemühen sich weiterhin, in schwierigen Zeiten Präsenz zu zeigen, gestärkt durch den Glauben an Gottes Unterstützung.

Abschliessend: Was nehmen Sie von der Konferenz auf Boldern mit?

Die Konferenz war für mich eine bedeutende Erfahrung, insbesondere hinsichtlich der Diskussion über die reformierte Identität. Wir haben reflektiert, dass unsere Identität nicht durch Abgrenzung gegenüber anderen definiert werden sollte. Vielmehr geht es darum, sich auf das zu konzentrieren, was Christus uns in dieser Zeit aufruft zu tun: nämlich für andere da zu sein und zu dienen. Als Vertreter einer Minderheitskirche im Nahen Osten sehe ich, wie wichtig es ist, in der Gesellschaft präsent zu sein und einen positiven Einfluss zu nehmen, wie wir es durch Bildung und soziales Engagement tun. Ein weiterer wesentlicher Punkt war die Bedeutung der Ökumene und des Humanismus, ohne die wir als Kirche nicht überleben können. Die Reformation ist ein kontinuierlicher Prozess, der uns herausfordert, nicht stehen zu bleiben, sondern immer wieder neue Wege zu finden, um Christi Ruf zu folgen.

Gehen Sie – trotz der weltweit schwierigen Lage – gestärkt und hoffnungsvoll daraus hervor? 

Trotz der globalen Herausforderungen und der Schwierigkeiten, denen die Kirche gegenübersteht, bin ich voller Hoffnung. Die Zusammenkunft mit Kirchen aus Europa hat mir gezeigt, dass wir durch gemeinsame Anstrengungen gestärkt werden können. Besonders bewegend war die Anwesenheit des Bischofs aus der Ukraine, der uns seine persönliche Geschichte erzählte und uns an die Bedeutung der Hoffnung erinnerte. Die gemeinsame Präsenz und der Austausch haben uns ermutigt, daran zu glauben, dass das Leiden nicht das letzte Wort hat, sondern die Auferstehung. Diese Hoffnung treibt uns an, sowohl im Nahen Osten als auch in Europa, nach einer besseren Zukunft zu streben, gestärkt durch unseren Glauben und die gemeinsame Überzeugung, dass Christus mit uns ist.

Najla Kassab, 60

Die libanesische Pastorin der Nationalen Evangelischen Synode in Syrien und Libanon ist seit 2017 Präsidentin der Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen (WGRK). Vom 13. bis 15. Juni war Kassab Gast am Regionaltreffen  Europa der WGRK auf Boldern zum Thema reformierte Identität. Eingela-den hatte die Evangelisch-reformierte Kirche Schweiz (EKS) zusammen mit der Zürcher Landeskirche. Das Interview mit Najla Kassab wurde auf Englisch geführt.