Porträt 06. April 2024, von Rita Gianelli

Vom Gerichtshof in Den Haag zum Pfarramt ins Engadin

Pfarramt

Pfarrerin war ihr Traumberuf. Doch erst jetzt hat sich Marie-Ursula Kind den Wunsch erfüllt. Die einstige Anwältin und Völkerrechtlerin tritt ihr Amt am 1. April in St. Moritz an.

Die Zügelschachteln sind zum Abholen bereit. Nur die Gobelinsessel und der grosse Holztisch mit blumenbedrucktem Tischtuch stehen noch auf ihren Plätzen. Es sind Erbstücke der Mutter von Marie-Ursula Kind. Am Tisch versammelte sich einst die sechsköpfige Familie.

«Meine Mutter hatte immer ein offenes Haus», sagt Kind, «sie kochte sehr gut, wir hatten oft Gäste.» Eine gastfreundliche Tischgemeinschaft pflegt auch die frisch ordinierte Pfarrerin. Nun nicht mehr in Walenstadt, aber bald in St. Moritz. 

Anwältin statt Pfarrerin

Mit ihrem Amtsantritt in Graubünden geht für Marie-Ursula Kind ein alter Traum in Erfüllung. «Zurück zu den Wurzeln, das wollte ich immer schon», sagt sie. Ein Vorfahre war Pfarrer in Chur. Auch der Grossvater war Pfarrer, und ihr Vater, ein Wirtschaftsanwalt, amtete viele Jahre als Kirchgemeindepräsident in Zürich Balgrist. Als Kind wollte Marie-Ursula Kind Pfarrerin werden. «Doch nach der Matur fühlte ich mich nicht reif genug für die Aufgabe als Pfarrerin», sagt sie. Stattdessen trat sie in die Fussstapfen des Vaters und spezialisierte sich auf das Völker- und Menschenrecht. Wie für den Vater war auch für sie eine christliche Grundethik in der Juristerei massgebend.

Einschneidender Verlust

Der frühe Tod des Vaters, Marie-Ursula war gerade mal neun Jahre alt, war ein Schock für die Familie. «Halt fand ich damals auch in der Kirchgemeinde», sagt Marie-Ursula Kind. Sie liebte die Sonntagsschule, den Kinderhütedienst, die Jugendgruppe, die sie später leitete, und den Gott, der, so glaubte sie, über die Familie und beim Vater wachte.

Nach ihrem Studium arbeitete sie als wissenschaftliche Assistentin beim Völkerrechtsexperten Daniel Thürer an der Universität in Zürich. Als der Weltsicherheitsrat 1993 die Internationalen Strafgerichtshöfe für das ehemalige Jugoslawien und Ruanda im niederländischen Den Haag einrichtete, bewarb sie sich als Praktikantin und nach einem halben Jahr war sie Teil des Teams von Chefanklägerin Carla Del Ponte. «Es war eine intensive Zeit», sagt Marie-Ursula Kind. Täglich konfrontiert mit Opfergeschichten, Beweismaterial sichtend, Zeugenaussagen ordnend und Anklageschriften vorbereitend, arbeitete sie praktisch zwölf Stunden, sieben Tage. 

Sie hatte Fristen einzuhalten und durfte mit niemandem über die Fälle sprechen. «Wir bildeten sozusagen eine eigene kleine Selbsthilfegruppe», sagt sie und streicht über das blumengemusterte Tischtuch. Jeder hatte zudem eine eigene Strategie, den beruflichen Alltag zu verarbeiten. Sie fand Anschluss in der lokalen Kirchgemeinde und sang im Kirchenchor. «Dafür habe ich extra Holländisch gelernt.» Zuweilen hätten ihr andere Mitglieder des Chors ein Abendessen im Plastikgeschirr mitgebracht, wenn sie einmal wieder spät erst in die Probe kam.

Neubeginn in den Bergen

Solches Wohlwollen erlebte sie auch in Walenstadt bei ihrer Amtseinsetzung. «Ich war tief berührt.» Nach zehn Jahren Gerichtshof in Den Haag und weiteren vier Jahren im Wiederaufbau im Westbalkan kehrte sie in die Schweiz zurück und wagte einen Neuanfang. Drei Jahre büffelte sie Hebräisch, Griechisch, Kirchengeschichte und Dogmatik und erfüllte sich auf diesem Weg ihren zweiten Traum: Pfarrerin zu werden.

Marie-Ursula Kind schenkt Wasser nach und lehnt sich zurück. «Kirche ist für mich stärkende Gemeinschaft», sagt sie. «In einer Zeit, in der die Leute verunsichert sind durch Krieg und Klimawandel, finde ich es wichtig, alle auf ihr Angebot aufmerksam zu machen.» Die Herausforderungen von Gemeindefusionen wie im Oberengadin sind der Zürcherin nicht fremd. Als die Stadt Zürich 32 Quartiergemeinden zu einer Kirchgemeinde vereinigte, betraf das auch Kinds Kirche in Zürich Balgrist. Auf ihre Initiative hin organisierte die Gemeinde Sonntagsandachten anstelle der eingesparten Gottesdienste. 

Dass es an der Eingangstür klingelt – «Schulkinder, die sich einen Streich erlauben» –, ignoriert Marie-Ursula Kind mit einem Lachen und erzählt von ihrem Onkel, der sie als junge Juristin einst warnte: «Wenn du dich für Gerechtigkeit einsetzen willst, bist du in der Juristerei am falschen Ort.» Damals fand sie das anmassend. Heute erkennt sie eine Wahrheit darin. «Ich suchte stets eine andere Art von Gerechtigkeit, die des ausgleichenden Gottes, der alles sieht, der Hoffnung gibt, trotz allem aufgehoben zu sein», sagt Kind.