Juristinnen und Juristen sagen gern, Recht und Gerechtigkeit seien nicht das Gleiche. Ist das nur eine Ausrede, um sich der Diskussion um Gerechtigkeit zu entziehen?
Marie-Ursula Kind: Nein, das sind unterschiedliche Dinge. Das Recht regelt das Zusammenleben in einer Gesellschaft, definiert die Regeln. Erhält ein Opfer nach einem Gerichtsprozess den Eindruck, ein Urteil sei gerecht, muss das nicht für den Täter oder das Publikum gelten. Ob mir Gerechtigkeit widerfahren ist, ist ein subjektives Gefühl.
Völkermord gilt als das schwerste aller Verbrechen. Ist da ein gerechtes Urteil überhaupt möglich?
Ich denke, es ist wichtig, dass ein Gericht den Tatbestand feststellen kann. Die Anerkennung des unendlichen Leides, das durch das willentliche Ausrotten einer Völkergruppe verursacht wurde, ist entscheidend, damit bei den Opfern ein Gefühl der Gerechtigkeit entstehen kann. Aber es ist klar, dass das nicht immer ausreicht, das waren auch die Rückmeldungen von Opfergruppen am Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY).
Was ist der Sinn solcher Prozesse?
Das ICTY wurde noch während des Konflikts geschaffen. Man hoffte, dass der Krieg dadurch schneller endet und nicht noch mehr Gräueltaten begangen werden. Leider hat sich diese Hoffnung nicht erfüllt.
Das Gericht diente als Drohkulisse?
Es sollte abschreckend wirken. Damals war nicht davon auszugehen, dass das Gericht seine Arbeit überhaupt aufnimmt. Mit Chefanklägerin Carla Del Ponte bekam der Gerichtshof ein Gesicht, es gab erste Urteile, wichtige Präzisierungen des Rechts. Es handelte sich, anders als bei den Nürnberger Prozessen nach dem Zweiten Weltkrieg, nicht um ein Militärgericht, sondern um ein ziviles Strafgericht, das nach rechtsstaatlichen Grundsätzen arbeitete. Allein das war ein Erfolg.
Hatte der Prozess Auswirkungen auf den Versöhnungsprozess?
Von Versöhnung zwischen den ehemaligen Konfliktparteien sind wir noch immer weit entfernt. Dafür reicht ein Tribunal nicht aus.