Schwerpunkt 28. Juli 2021, von Cornelia Krause, Felix Reich

«Das stelle ich mir als die Hölle vor»

Am Gericht

Manchmal empfand Anwältin Marie-Ursula Kind ein Urteil am Kriegsverbrecher-Tribunal für Ex-Jugoslawien als «total ungerecht». Dann half ihr ein Gebet.

Juristinnen und Juristen sagen gern, Recht und Gerechtigkeit seien nicht das Gleiche. Ist das nur eine Ausrede, um sich der Diskussion um Gerechtigkeit zu entziehen?

Marie-Ursula Kind: Nein, das sind unterschiedliche Dinge. Das Recht regelt das Zusammenleben in einer Gesellschaft, definiert die Regeln. Erhält ein Opfer nach einem Gerichtsprozess den Eindruck, ein Urteil sei gerecht, muss das nicht für den Täter oder das Publikum gelten. Ob mir Gerechtigkeit widerfahren ist, ist ein subjektives Gefühl.  

Völkermord gilt als das schwerste aller Verbrechen. Ist da ein gerechtes Urteil überhaupt möglich?

Ich denke, es ist wichtig, dass ein Gericht den Tatbestand feststellen kann. Die Anerkennung des unendlichen Leides, das durch das willentliche Ausrotten einer Völkergruppe verursacht wurde, ist entscheidend, damit bei den Opfern ein Gefühl der Gerechtigkeit entstehen kann. Aber es ist klar, dass das nicht immer ausreicht, das waren auch die Rückmeldungen von Opfergruppen am Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY).

Was ist der Sinn solcher Prozesse?

Das ICTY wurde noch während des Konflikts geschaffen. Man hoffte, dass der Krieg dadurch schneller endet und nicht noch mehr Gräueltaten begangen werden. Leider hat sich diese Hoffnung nicht erfüllt.

Das Gericht diente als Drohkulisse?

Es sollte abschreckend wirken. Damals war nicht davon auszugehen, dass das Gericht seine Arbeit überhaupt aufnimmt. Mit Chefanklägerin Carla Del Ponte bekam der Gerichtshof ein Gesicht, es gab erste Urteile, wichtige Präzisierungen des Rechts. Es handelte sich, anders als bei den Nürnberger Prozessen nach dem Zweiten Weltkrieg, nicht um ein Militärgericht, sondern um ein ziviles Strafgericht, das nach rechtsstaatlichen Grundsätzen arbeitete. Allein das war ein Erfolg.

Hatte der Prozess Auswirkungen auf den Versöhnungsprozess?

Von Versöhnung zwischen den ehemaligen Konfliktparteien sind wir noch immer weit entfernt. Dafür reicht ein Tribunal nicht aus.

Von Versöhnung zwischen den ehemaligen Konfliktparteien sind wir noch immer weit entfernt.

Kann Versöhnung überhaupt das Ziel eines Gerichtsverfahrens sein?

Ich halte eine juristische Aufarbeitung für unumgänglich. Sie dient auch dazu, Sachverhalte festzustellen und Zeugenaussagen zu dokumentieren. Darauf kann die Erinnerungsarbeit aufbauen. Nach dem Jugoslawienkrieg wurde zuerst zu stark auf das Gerichtsverfahren abgestellt, andere Elemente der Versöhnungsarbeit kamen zu kurz.

Zudem blieb das Tribunal ein Satellit, da es geografisch zu weit entfernt war von den Menschen, die es betraf. Aus Sicherheitsgründen konnten wir lange nicht vor Ort ermitteln. Am Ende meiner Zeit in Den Haag arbeitete ich dann mit den Staatsanwaltschaften in Belgrad, Sarajevo und Zagreb zusammen. Da wurde deutlich, wie wichtig es ist, Verfahren vor Ort durchzuführen.

Zugleich kann ein Gerichtsurteil die Gräben noch vertiefen.

Dem Gericht wurde vorgeworfen, dass es einseitig Serben verurteilt habe, was so pauschal nicht stimmt. Aber der bosnisch-serbischen Armee liessen sich Taten leichter nachweisen, jeder Befehl war protokolliert. Die albanische UCK hingegen war eher eine Guerillaorganisation mit flachen Hierarchien und ohne schriftliche Kommunikation. Hinzu kommt, dass Zeugen bedroht werden können, wenn mutmassliche Täter noch an der Macht sind.

Am Tribunal vergingen teilweise Jahre, bis endlich ein rechtskräftiges Urteil vorlag, aufwendig geführte Verfahren verliefen im Sand. Hat Sie das nicht frustriert?

Doch. Ich war über lange Zeit hinweg mit einer Anklage gegen zwei bosnische Kroaten betraut. Sie mussten sich unter anderem für das Massaker an über hundert bosnischen Muslimen im Dorf Ahmici verantworten. Die Männer hatten eng zusammengearbeitet, es hiess, sie seien wie zwei Köpfe an einem Körper gewesen. Dennoch kam es aus verfahrenstechnischen Gründen in der Berufung nur beim einen Täter zur Bestätigung des erstinstanzlichen Urteils, die andere Strafe wurde massiv reduziert.

Wie sind Sie damit umgegangen?

Es war ein Reality-Check. Seit ich als Kind über das Unrecht gelesen habe, das den Indianern angetan wurde, wollte ich mich für die Benachteiligten einsetzen. Ich bin mit wehenden Fahnen zum Gericht gegangen. Dann musste ich lernen, wo die Grenzen von Strafverfahren sind. Aber auch, dass es noch andere Möglichkeiten gibt, Taten auf­zuarbeiten. Man kann die Geschichten erzählen und Bücher darüber schreiben. Oder auch Akten aufbewahren für spätere Verfahren.

Es geht schnell, und ein Wertesystem gerät ins Rutschen. Das habe ich am Tribunal gesehen.

Welche Alternativen sehen Sie denn zu Gerichtsverfahren, die der Aufarbeitung dienen können?

Es hängt davon ab, was eine Regierung zulässt. Südafrika entschied sich für eine Wahrheitskommission und verzichtete auf Gerichtsverfahren. Ob das funktioniert, muss sich zeigen. Häufig braucht eine Aufarbeitung zwei Generationen. Das sieht man in der Schweiz mit Blick auf den Zweiten Weltkrieg, in Deutschland noch mehr. Die Enkel können mit den Grosseltern anders sprechen als deren Kinder. Die vom ICTY angestrengten Verfahren haben immerhin dazu beigetragen, dass sich gewisse Verbrechen nicht mehr wegdiskutieren lassen.

Sie haben unzählige Zeugenprotokolle gelesen und dabei in menschliche Abgründe geschaut. Hat sich dabei Ihr Gottesbild verändert?

Mein Menschenbild hat sich verändert. Ich sah, zu welchen Grausamkeiten Menschen fähig sind. Ich stelle mir vor, Gott weint über dieses Elend. Gott hat uns als selbstständig denkende Wesen erschaffen, die Verantwortung übernehmen können. Er hat uns Freiheit gegeben. Wie wir damit umgehen, müssen wir vor uns selbst verantworten.

Warum schaut Gott nur zu, wenn Menschen Unrecht erfahren?

Wir können auf diesen Gott, der das Volk Israel im Alten Testament auf seinem schwierigen Weg geführt hat, vertrauen. Aber oft sind Kräfte am Werk, die uns verführen, fürchterliche Dinge zu tun. Trotz allem bin ich überzeugt davon, dass Gott das letzte Wort hat. Lief eine Anklage ins Leere, obwohl die Anklagebehörde Beweise dafür hatte, was passiert ist, sagte ich zu Gott: «Das Gerichtsurteil war total ungerecht, jetzt musst Du für Gerechtigkeit sorgen.» Das hat mich entlastet.

Sie glauben an das Jüngste Gericht?

Es ist auf jeden Fall eine Orientierungshilfe für mein Verhalten. Ich gehe davon aus, dass ich einmal Rechenschaft ablegen muss vor Gott. Gott lädt uns zum Leben ein, wir werden immer wieder schuldig. Ich vertraue auf einen gnädigen Gott.

Der auch schlimmste Taten vergibt?

Ich bin überzeugt, dass wir für unsere Vergehen geradestehen müssen. Aber wir dürfen ehrlich bereuen und Gott um Vergebung bitten. Die Gnade kostet nichts, aber sie ist nicht billig. Um sie anzunehmen, muss ich vor mir selbst und vor Gott meine Schuld eingestehen. Je nachdem, was ich getan habe, ist das geradezu unvorstellbar. Denken Sie an Hitler. Der Moment, in dem ein solcher Diktator erkennt, was er anderen Menschen angetan hat, stelle ich mir buchstäblich als die Hölle vor.

Marie-Ursula Kind, 55

Am Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) arbeitete Marie-Ursula Kind von 2000 bis 2010. Von 2007 bis 2016 leitete sie Projekte zur Übergangsjustiz in Den Haag, Bosnien und Herzegowina, Genf und Kosovo und wurde als Expertin für zivile Friedensförderung in mehrere Länder entsandt. Inzwischen hat die Anwältin den Studiengang «Quereinstieg in den Pfarrberuf» absolviert.

Jesus fordert uns auf, auch noch die andere Wange hinzuhalten, wenn uns jemand schlägt. Und er sagt: «Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet!» (Mt 7,1) Müssen Juristinnen und Juristen solche Bibelstellen überspringen?

Natürlich stolpere ich als Juristin über solche Stellen. Ich glaube, Jesus will uns auch irritieren. Lässt sich ein Konflikt im Gespräch ohne Urteil lösen, umso besser. Im Zivilrecht geht man deshalb ja zuerst zum Friedensrichter. In Ruanda gibt es Verfahren, in denen die Dorfgemeinschaft erst miteinander einen Weg sucht, um Unrecht auszugleichen. Vieles liesse sich lösen, wenn Täter Schuld eingestehen, das ist wohl die Voraussetzung.

Die Bibel erzählt vom barmherzigen Gott, aber auch vom strafenden Gott. Wie geht das zusammen?

Als Opfer hoffe ich auf den gerechten Gott, der für mich streitet. Als Täterin wünsche ich mir einen gnädigen Gott, wenn ich meine Schuld anerkenne. Ich denke, Gott ist beides in seiner Weisheit.

Die Reformatoren sprachen davon, dass sich die weltliche Gerechtigkeit auf die göttliche Gerechtigkeit beziehe. Was halten Sie davon?

Das Konzept leuchtet mir ein. Wir müssen uns an göttlichen Geboten orientieren und uns dem weltlichen Recht unterstellen. Aber wenn sich geltendes Recht als offensichtliches Unrecht entpuppt und den christlichen Werten widerspricht, müssen wir uns dagegen wehren. So konsequent zu handeln, wie Jesus es vorgelebt hat, ist jedoch eine Überforderung, deshalb sind wir auf Gottes Gnade angewiesen.

Was nehmen Sie aus dem Gericht mit auf die Kanzel?

Ich habe gelernt, in meinem Urteil über Menschen vorsichtig zu sein. Und nicht zu glauben, dass solche Verbrechen in der Schweiz nicht möglich sind. Wir müssen extrem wachsam sein, wenn Minderheiten ausgegrenzt werden, schlecht über sie geredet wird. Ob das nun Muslime, Roma oder Sans-Papiers sind. Es geht so schnell, und ein Wertesystem gerät ins Rutschen. Das habe ich am Tribunal gesehen. Als Pfarrerin möchte ich an einer Gemeinschaft bauen, die sich an Christus orientiert, in der wir zueinander schauen. Dass Gott uns einlädt, mit ihm im Gespräch zu bleiben, und uns Jesus als Bruder im Leben begleitet: Das will ich predigen.