Nach dem Gespräch mit Brigitte Hürlimann bleibt vor allem ein Eindruck: Ja, sie ist Gerichtsreporterin mit Leib und Seele und mit viel Wissen und grosser Demut.
Die 58-jährige Journalistin und promovierte Juristin sagt gleich am Anfang: «Mit 23 kam ich als Reporterin zum Tagi, Berichterstattung aus dem Gericht war Pflichtstoff. Das hat mich vom ersten Tag an gefesselt und begeistert. Und so ist es heute noch.» So schätzt sich Hürlimann glücklich, dass ihre aktuelle Arbeitgeberin «Republik» eine eigene Rubrik dafür pflegt.
Nirgendwo sonst so viel gelernt
Alle Tragödien des menschlichen Lebens spielten sich im nüchternen Gerichtssaal ab. «Ich habe nirgendwo sonst so viel gelernt über das Leben, über Schmerz und Verlust.»
Hürlimann schätzt die kontroverse Diskussion, in der um Lösungen gerungen wird. Gestritten werde sachlich. «Ganz anders als im Parlament», ergänzt sie und lächelt.
Immer klarer wurde ihr mit der Zeit: «Die Begriffe ‹gut› und ‹böse› sind nicht so einfach zuzuordnen.» Denn mit dem humanen Strafvollzug sei eine andere Haltung zentral: «Auch ein Mörder ist nie nur ein Mörder. Er kann humorvoll sein, charmant – eine vielschichtige Person.» Wirklich böse seien wohl nur ganz wenige Menschen.
Die Gefahr der Prävention
Hürlimann beobachtet, dass diese Grundhaltung zunehmend unter Druck gerät. Der gesellschaftliche Konsens verschiebe sich zu stark in Richtung Prävention, kritisiert sie. Mit Urteilen werde versucht, künftige Verbrechen zu verhindern, und damit in der Konsequenz in Kauf genommen, dass Menschen auf Vorrat eingesperrt bleiben.
Zugleich gerate der letzte Teil des Ablaufs im Strafrecht zunehmend aus dem Blick: der Auftrag, die Verurteilten nach Verbüssung ihrer Strafe wieder zu integrieren. Ebenfalls «hochproblematisch» findet die Juristin das Wahlverfahren für das Richteramt. «Dass man einer bestimmten Partei angehören muss, ist inakzeptabel und wird unter anderem auch von der europäischen Antikorruptionsbehörde kritisiert», sagt Brigitte Hürlimann.
Vehemente Rechtfertigung
Geht es darum, die journalistische Arbeit zu rechtfertigen, wird Hürlimann energisch. Gerichtsberichterstattung sei «absolut fundamental wichtig» für die Gesellschaft. Die Bevölkerung müsse nachvollziehen können, wie gerichtet werde. Die Urteile der Richter verständlich zu machen, sei «für den Rechtsfrieden unabdingbar». Diesen Satz wiederholt sie im Gespräch gleich dreimal.
Die Arbeit am Gericht sei viel zu wenig bekannt, findet die Juristin. «Das schockiert mich immer wieder. Kaum jemand weiss, dass Gerichtstermine grundsätzlich öffentlich sind. Das ist ein Grundpfeiler der Demokratie und Gesellschaft!»
Von der Töchterhandelsschule zum Ehrendoktortitel
Hürlimann versucht, möglichst zugänglich zu beschreiben, was das Gericht tut, wie die Urteile zustande kommen und welche Regeln gelten, wie die ganzen Abläufe funktionieren. Dieses Wissen fehlte ihr zu Beginn ihrer Reportertätigkeit. Mit der Töchterhandelsschule als Ausbildung realisierte sie, dass sie im Gericht fachlich «eine Schicht nicht durchdringen» konnte.
Die Journalistin schrieb sich mit 32 an der Universität Freiburg ein und schloss 2004 mit einer Dissertation ab. 15 Jahre später verlieh ihr die Universität Bern den Ehrendoktor. Das ehre sie, doch sei ihr stets bewusst, dass sie nur einen Teil der Geschichte kenne. Sie verfolgt, was im Gerichtssaal passiert, von der Untersuchung weiss sie wenig. «So habe ich Demut vor jedem Prozess.»
Fairness reicht vollkommen
Was Gerechtigkeit ist, weiss Hürlimann nicht. Gerecht zu sein, sei ohnehin ein zu hoher Anspruch. Sie meidet das Wort, «subjektiv, zu abstrakt und philosophisch» sei es. Lieber braucht sie den Begriff Fairness. «Wir müssen faire Prozesse führen, dann haben wir eigentlich fast alles erreicht.»