Ihr Leben als frisch pensionierte Richterin ist gerade etwas turbulent. Eines ihrer Tiere ist krank, das bringt viel Unruhe. Marianne Heer und ihr Mann leben mit drei Hunden, acht Katzen und drei Pferden. «Tiere geben uns sehr viel: Sie sind unmittelbar, und im Gegensatz zu den Menschen lügen sie nicht.»
In ihrer Arbeit als Richterin war die Unterscheidung zwischen Lüge und Wahrheit zentral. Um zu einem tragfähigen Urteil zu kommen, verschaffte sie sich zuerst aufgrund der Akten ein Bild. Beim Prozess selbst blieb dann, wenn überhaupt, meistens nur wenig Zeit, mit den Beschuldigten zu sprechen.
Die persönliche Begegnung war Heer dennoch enorm wichtig. «Natürlich wäre es anmassend zu sagen, ich kenne jemanden nach einer Viertelstunde.» Dennoch traut sie sich nach über 30 Berufsjahren eine grosse Menschenkenntnis zu. «Ich erkenne ziemlich gut, wenn jemand lügt.» Die unzähligen Prozesse haben ihre Intuition geschärft. «Aus der Art, wie und wann jemand was sagt, lässt sich viel ableiten.»
Fakten und Intuition
Die Intuition ist freilich nur ein Aspekt für die Urteilsbildung. Immer wieder kam es vor, dass das Gefühl nicht mit der Faktenlage übereinstimmte und ein Angeklagter beispielsweise im Lauf des Verfahrens entlastet wurde. Damit hatte Heer kein Problem. «Mein oberstes Ziel als Richterin war es, keine Unschuldigen zu verurteilen.» So konnte sie bei einem Freispruch gut damit leben, den Angeklagten zu Beginn falsch eingeschätzt zu haben.
Die 65-jährige ehemalige Oberstaatsanwältin und Kantonsrichterin interessiert sich für die Menschen und das, was sie antreibt. Ihr Spezialgebiet sind Straftäter mit psychischen Krankheiten. Vor zehn Jahren gründete sie das Forum Justiz und Psychiatrie, das angehende Juristinnen und Juristen ausbildet.
«Es ist immer, aber ganz besonders bei psychisch kranken Menschen wichtig zu fragen, weshalb eine Tat begangen wurde, welche Umstände dazu geführt haben.» Nur so sei es möglich, Urteile zu fällen, die die Interessen des Staates, der Opfer, des Täters und der Gesellschaft zugleich berücksichtigten.
Der Mensch bleibt ein Tier
Dass die Öffentlichkeit nach einem schweren Verbrechen eine angemessene Strafe fordert, ist für Heer mehr als verständlich. «Begangenes Unrecht muss gesühnt werden.» Doch das Ziel einer Strafe sei nicht Vergeltung, vielmehr gelte es, weiteres Unheil zu verhindern.
Heer findet es bedenklich, dass es nach der Liberalisierung des Strafrechts in den 70er- und 80er-Jahren nun eine Gegenbewegung gibt, die härtere Strafen und mehr Kontrolle und Sicherheit fordert. «Es braucht Strafen, die ernst genommen werden, doch Sühne allein nützt den Opfern nichts und bringt unter Umständen die Gesellschaft in Gefahr.»
Heer ist überzeugt, dass selbst umfangreiche Gutachten den Menschen nie restlos erfassen. Richter könnten nur eine Prognose stellen und das Urteil danach ausrichten.
Der Mensch sei letztlich ein Tier. Eines mit einer höheren Intelligenz und dem Instinkt eines Raubtiers: fressen oder gefressen werden. «Natürlich bemühen wir uns, aggressive Impulse zu kontrollieren, doch gelingt das nicht immer und nicht allen.»