Schwerpunkt 28. Juli 2021, von Anouk Holthuizen

«Ich setze mich für ein faires Verfahren ein»

Am Gericht

Tanja Knodel hatte schon früh Mühe, wenn Leute ihre Position ausnutzen. Die Anwältin stellt sich auf die Seite jener, die vor Gericht einer besonders grossen Macht gegenüberstehen.

Schon als Schülerin standen Tanja Knodel die Haare zu Berge, wenn ein Lehrer demonstrierte, dass er mehr Macht als die Schüler besass. Heute lösen zuweilen Polizisten und Staatsanwälte dieses Gefühl in ihr aus. Die 46-Jährige sitzt in ihrer Kanzlei Müller Knodel + Partner am Tisch, an dem sie auch ihre Mandanten empfängt, und sagt: «Ich mag es nicht, wenn jemand einen Beruf mit einem Machtprimat hat und dieses missbraucht. Das hat mit dem Alter noch zugenommen.»

Tanja Knodel vertritt als Verteidigerin Menschen, die einer besonders grossen Macht gegenüberstehen: dem Staat. Ihre Aufgabe ist es, am Gericht dafür zu schauen, dass den Beschuldigten allfällige Verstösse prozessual korrekt nachgewiesen werden und sie im Fall eines Schuldspruchs angemessene Strafen erhalten. «Auch wer gegen das Gesetz verstossen hat, besitzt in unserem Land das Recht auf einen fairen Prozess.» Leider würden die Verfahren nicht immer sauber ablaufen. «Im Zweifel für den Angeklagten? Das erlebe ich oft anders.»

Beweislast liegt beim Staat

Knodels Name tauchte im Frühling in vielen Medien auf, weil sie durch die geplante Verschärfung des Sexualstrafrechts ein wichtiges Gut bedroht sieht: dass nicht mehr der Staat die Schuld, sondern der Verdächtigte, dem eine sexuelle Gewalttat vorgeworfen wird, seine Unschuld beweisen muss. Die Umkehr der Beweislast wäre in ihren Augen das Ende des Rechtsstaats.

Grundsätzlich gilt die Unschuldsvermutung immer, ausser wenn die Schuld erwiesen ist, etwa weil sich jemand selbst anzeigt, in flagranti erwischt wird oder belastendes Videomaterial vorliegt. «In solchen Fällen ist es meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass das Verfahren fair abläuft, mein Mandant nur für die begangene Tat verantwortlich gemacht wird und das Strafmass nicht unpassend hoch ausfällt, weil persönlich gefärbte Meinungen hineinspielen», sagt Knodel. Beispielsweise weil der Beschuldigte eine bestimmte Hautfarbe habe.

«Ist die Schuld aber nicht bewiesen, und der Mandant erzählt mir einigermassen plausibel, warum er kein Täter ist, gehe ich von seiner Unschuld aus.» Selbst wenn viele Indizien dagegensprechen. «Es gibt immer wieder Ereignisse und Zufälle, von denen man denkt, dass sie nicht möglich sind.» Zweifle sie an der Version ihres Mandanten, sage sie ihm das jeweils. «Wenn ich vor Gericht verteidige, stehe ich zu jedem Wort, das ich sage.»

Abzweigungen ins Chaos

Die Anwältin hat keine Mühe, Menschen zu verteidigen, die Schlimmes getan haben. Oft macht sie die Erfahrung: «Niemand ist davor gefeit, irgendwann einmal im Leben eine Straftat zu begehen.» Manchmal sei es Zufall. «Aber ich sehe in den meisten Biografien Abzweigungen, die ins Chaos führten.»

Knodel belastet es mehr, wenn ein Mandant zu einer Strafe verurteilt wird, die sie als nicht angemessen empfindet, und sie sich fragt, ob sie wirklich alles für den Mandanten getan, alle Argumente vorgetragen hat. «Vor allem wenn es um lange Haftstrafen geht.» Oft liegt sie in den Nächten vor solchen Prozessen lange wach. Das sei aber richtig. «Wäre ich nicht mehr nervös, müsste ich meinen Beruf an den Nagel hängen.»