«Ich bin pessimistisch, aber nicht hoffnungslos»

Gegen das Vergessen

KZ-Gedenkstättenleiter Jens-Christian Wagner über das Gedenken zum 80. Jahrestag des Kriegsendes und Erinnerungskultur in polarisierenden Zeiten. 

Mit zahlreichen Veranstaltungen wurde in Deutschland und anderen Ländern jüngst an das Ende des Zweiten Weltkriegs vor 80 Jahren erinnert. Wie haben Sie selbst das Gedenken erlebt? 

Jens-Christian Wagner: Mit gemischten Gefühlen. Tatsächlich gab es sehr viele Veranstaltungen, aber einige waren von aktuellen politischen Debatten überschattet. So wurde viel über den russischen Botschafter diskutiert, der, obwohl er nicht eingeladen war, an Gedenkfeiern teilnahm. Überhaupt war das politische Umfeld speziell, derzeit erleben wir ja vermehrt wieder Angriffe auf Demokratien – in Europa oder den USA. Ausserdem war es wohl der letzte runde Gedenktag, an dem Holocaustüberlebende präsent waren. An der Veranstaltung in der Gedenkstätte des KZ Buchenwald nahmen lediglich neun Überlebende teil, 2005 waren es noch 500.

Die AfD ist zweitstärkste Kraft, und vielen ihrer Politiker ist das Gedenken an den Holocaust ein Dorn im Auge. Laut einer Studie wünschen sich fast 40 Prozent der Deutschen einen Schlussstrich unter den Zweiten Weltkrieg. Ist die Erinnerungskultur gescheitert? 

Nein, das würde ich nicht sagen. Das Bewusstsein nimmt zwar ab, aber der Rechtsruck in Deutschland ist eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung. Dass die AfD im deutschen Osten so stark ist, hat unter anderem mit den Erfahrungen der Menschen in den Neunzigerjahren zu tun. Sie erlebten, wie ein vermeintlich sicher geglaubtes System von heute auf morgen zerbröseln kann. Das erzeugt ein Gefühl der Unsicherheit, das die AfD gezielt bewirtschaftet. Zudem sind alte Geschichtsbilder der DDR anschlussfähig für heutige Rechtsextreme. Dennoch hat unsere Erinnerungskultur Defizite.

Welche sind das? 

Sie beschränkt sich zu stark darauf, um die Opfer zu trauern, ohne zu fragen, warum sie zu Opfern wurden. Was trieb Täter, Mittäter und Profiteure der Verbrechen an? Wir müssen uns viel stärker mit der Frage beschäftigen, wie die nationalsozialistische Gesellschaft als eine radikal rassistische und antisemitische Gesellschaft funktioniert hat. Mit Ideologien der Ungleichwertigkeit und Kriminalisierungsdiskursen. Letztere verfingen: Zumindest in Teilen war die NS-Diktatur eine Zustimmungsdiktatur. Das müssen wir in den Blick nehmen und dann schauen, was für Diskurse und Ideologien heute eine Rolle spielen.

Jens-Christian Wagner

Der Historiker ist seit 2020 Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora in Thüringen. Letztere leitete Jens-Christian Wagner zuvor, ebenso wie die Gedenkstätte auf dem Gelände des ehemaligen KZ Bergen-Belsen in Niedersachsen. An der Universität in Jena unterrichtet er zudem als Professor für Geschichte in Medien und Öffentlichkeit. 

Warum passiert diese Auseinandersetzung zu selten? 

Es ist einfacher, mit und um Opfer zu trauern und sich auf ihre Seite zu stellen, als danach zu fragen, wie die Verbrechen eigentlich geschahen und wer sie beging. Das beträfe auch die eigene Familiengeschichte. Die meisten Deutschen denken, es habe in der Familie nur NS-Opfer gegeben und keine Täter, aber historische Befunde belegen das Gegenteil. Aus der Post-Täter-Gesellschaft heraus ist die Identifikation mit den Opfern eine Anmassung. Wir brauchen eine quellengestützte, wissenschaftlich basierte Auseinandersetzung mit der Geschichte, die auch Fragen zu Gegenwart und Zukunft aufwirft. Etwa jene, in welcher Gesellschaft wir leben wollen. Der Fokus liegt zu stark auf einem Trauern ohne Nachdenken.

Für Historiker ist diese Auseinandersetzung unabdingbar. Doch können das auch Menschen ohne vertieftes historisches Wissen oder akademischen Hintergrund leisten? 

Natürlich ist das mühsamer als der Konsum hohler Pathosformeln und Gedenkrituale, die teils an Erinnerungskitsch grenzen. Aber es ist nachhaltiger und wirkt. Über die vielen Schulklassen aller Leistungsniveaus erreichen wir in Buchenwald einen repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung.

Sie plädieren stark für eine intellektuelle Herangehensweise. Die Geschichten der Zeitzeugen wirken auf emotionaler Ebene. Wie wichtig ist das Zeugnis aus erster Hand, das nun verschwindet? 

Die Geschichten der Überlebenden bewegen. Zugleich ist ein Zeitzeugenbericht stets subjektiv, und diese subjektive Erinnerung verändert sich über Jahrzehnte. Die Überlebenden haben jedoch eine weitere wichtige Rolle: Sie sind der Schutzschirm unserer Erinnerungskultur. Immer, wenn es Angriffe gegen die Gedenkarbeit gab, Versuche, den Holocaust zu verharmlosen, meldeten sie sich zu Wort. Dieser Schutzschirm ist nun extrem löchrig geworden. Das ist eine grosse Gefahr für die kritische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus.

Social Media sind ein idealer Nährboden für Fake News und Fake History – ich halte sie für die Pest des 21. Jahrhunderts.

Kommen noch andere Herausforderungen auf die Gedenkarbeit zu? 

Die Verschiebung von Wissensaneignung und Meinungsbildung ins Digitale ist vermutlich der wichtigste Grund, weshalb Rechtsextreme und Rechtspopulisten weltweit erstarken. Social Media sind ein idealer Nährboden für Fake News und Fake History – ich halte sie für die Pest des 21. Jahrhunderts. Man könnte ja sagen: Da machen wir nicht mit. Aber das hilft nicht – sie sind nun mal da. Deshalb müssen wir sie ebenfalls nutzen und der Desinformation gesicherte, quellengestützte, wissenschaftlich fundierte Informationen entgegensetzen.

Sie haben in Chile gelebt und gearbeitet. Wie entwickelt sich die Gedenkarbeit in anderen Ländern?

Ich sehe einen weltweiten Trend zur Verharmlosung und Verleugnung von Regimeverbrechen. In Chile etwa setzen rechte Präsidentschaftskandidaten Parolen in die Welt, die vor zehn Jahren undenkbar gewesen wären. Etwa, dass der Militärputsch unter Pinochet 1973 und die damit verbundenen Toten alternativlos gewesen seien.

Auch wenn wir bei der Gedenkstätte immer wieder Hassmails erhalten, sind jene mit solidarischen Botschaften deutlich zahlreicher.

Dabei schien es, dass Erinnerungsarbeit in weiten Teilen der Welt in den letzten Jahrzehnten selbstverständlicher wurde. 

Das war in den goldenen Nullerjahren tatsächlich so, auch in Chile übrigens. Aber seit etwa zehn Jahren dreht das Rad wieder andersrum.

Wie beurteilen Sie die Chancen, dass sich wissenschaftsbasierte Gedenkarbeit gegen Desinformation und Populismus durchsetzen kann? 

Ich bin nicht sehr zuversichtlich, was die Zukunft der Demokratie in Deutschland angeht – aber auch nicht hoffnungslos. Zwar gibt es einige Parallelen zu den frühen Dreissigerjahren. Aber anders als damals wird die Demokratie nur von einer Seite des Spektrums – von rechts – angegriffen. Selbst in Thüringen, wo die AfD stärkste Kraft ist, ist die Mehrheit weiterhin im demokratischen Gemeinwesen verankert. Auch wenn wir bei der Gedenkstätte immer wieder Hassmails erhalten, sind jene mit solidarischen Botschaften deutlich zahlreicher. Letztes Jahr haben wir sogar so viele Spenden erhalten wie nie zuvor.