Die von Ihnen gegründete «Gamaraal»-Stiftung vermittelt Holocaustüberlebende an Schulen und erzählt deren Lebensgeschichten in der Ausstellung «The Last Swiss Holocaust Survivors». Wieviele Menschen können derzeit noch vom Holocaust erzählen?
In der Schweiz leben vielleicht noch etwa 320 Überlebende. Allerdings gibt es eine Dunkelziffer, denn manche Menschen haben nie über ihre Vergangenheit gesprochen. Weltweit schätzt die Jewish Claims Conference (JCC) die Zahl der Überlebenden auf etwa 200 000. Ihr Durchschnittsalter liegt bei 87 Jahren. Die JCC geht davon aus, dass in zehn Jahren 70 Prozent von ihnen nicht mehr leben. Diese Menschen erlebten den Holocaust in der Regel als Kinder.
Wie verändert sich Ihre Arbeit, wenn die Stimmen der Überlebenden zunehmend verstummen?
Als wir merkten, dass wir nicht mehr viel Zeit haben, begannen wir vor zehn Jahren ihre Geschichten in Videointerviews festzuhalten. Hunderte Gespräche habe wir seitdem geführt. Meist gehen wir zu den Menschen nach Hause, dort reden wir oft stunden-, manchmal tagelang. Wir befragen die Überlebenden sehr sorgfältig und sehr präzise. Denn es ist uns unermesslich wichtig, dass diese Zeitdokumente für zukünftige Generationen erhalten bleiben.
«Viele sagten mir: «Jetzt erst recht!»»
Die Schweizer Gamaraal-Stiftung bemüht sich darum, Geschichten von Holocaust-Überlebenden zu erhalten. Präsidentin Anita Winter über neue Techniken für künftige Generationen.
Geschichten von Überlebenden werden in Bern gezeigt: Die Ausstellung «The Last Swiss Holocaust Survivors». (Foto: Gamaraal Foundation)


Anita Winter ist Präsidentin der von ihr gegründeten Gamaraal Foundation. Die Stiftung leistet Holocaust-Bildungsarbeit, indem sie Überlebende aus der Schweiz vermittelt, die in Schulen, Universitäten oder Unternehmen ihre Geschichte erzählen. Zudem zeichnet Winter mit ihrem Team Interviews mit Überlebenden auf. Auch die Ausstellung «The Last Swiss Holocaust Survivors» wird von der Stiftung organisiert. Die Porträts und Geschichten der Überlebenden werden in ganz Europa gezeigt und können auch online angeschaut werden. Winter stammt aus einer jüdischen Familie, ihre Eltern kamen aus Deutschland. Die Mutter überlebte den Holocaust, weil sie sich in einem Kloster in Frankreich verstecken konnte. Ihr Vater Walter Strauss wurde in Berlin Zeuge der Reichskristallnacht, 1939 gelang ihm die Flucht in die Schweiz. (Foto: zvg)
Was machen Sie mit diesem umfangreichen Material?
Zurzeit konzentrieren wir uns auf die Sicherung und Archivierung. Später schauen wir, in welcher Form das Material für zukünftige Generationen aufbereitet wird. Denn die nächsten Generationen werden keine Chance mehr haben, einem Zeitzeugen zuhören zu dürfen. Machen wir diese Aufnahmen nicht jetzt, ist die Gelegenheit unwiederbringlich verloren.
Videoaufnahmen können wohl kaum an Zeitzeugengespräche heranreichen.
Wir haben auch Material für 3-D-Hologramme gesammelt. Dafür wurden zwei unserer Überlebenden, die Journalistin Agnes Hirschi und der Immunologe Ivan Lefkowitz, in den Filmstudios Babelsberg bei Berlin von 36 Kameras rundum gefilmt. Auch diese Technik wird ein Gespräch mit einem lebenden Zeitzeugen nie ersetzen, aber sie kommt ihm derzeit wohl am nächsten. Es ist wichtig, die Aufnahmen in der bestmöglichsten Qualität zu machen. So kann das Material hoffentlich auch noch verwendet werden, wenn sich die Technik weiterentwickelt.
Die Überlebenden sind hoch betagt. Wie gross ist ihre Motivation noch, von den Grausamkeiten in ihrer Kindheit zu erzählen?
Wir mussten bislang noch nie eine Veranstaltung, etwa in einer Schule, absagen. Fällt jemand zum Beispiel wegen Krankheit aus, springt jemand anderes ein. Nach dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 meldeten sich sogar noch mehr Menschen bei uns, um Vorträge zu halten, zu sensibilisieren und Holocausterziehungsarbeit zu machen. Viele sagten mir: «Jetzt erst recht!» Die Motivation ist nie ein Problem. Alle, die ich befragt habe – wirklich alle –, betonten, dass das Geschehene niemals in Vergessenheit geraten darf. Viele sprechen auch in Vertretung der Millionen Menschen, die ermordet wurden. Wer das unglaubliche Glück hatte zu überleben, empfindet es oft als Verpflichtung, über die eigenen Erfahrungen zu sprechen.
Die Geschichten von Zeitzeugen sind entscheidend, um mitzufühlen, sie machen den Horror des Dritten Reichs erlebbar. Gleichzeitig erinnern Historiker daran, dass Erinnerung nicht nur subjektiv ist, sondern sich über Jahre und Jahrzehnte verändert.
Natürlich ist jede Geschichte anders. Die Überlebenden sagen von sich selbst, dass sie einen Teil der Geschichte in sich tragen, den nur sie besitzen und erzählen können. Dieses Puzzleteil können Historiker nicht ersetzen. Meine Erfahrung ist, dass die Menschen sich sehr präzise erinnern, auch an kleinste Details. Diesen Fackelstab der Erinnerung müssen wir an die nächste Generation weitergeben.
Die Medienlandschaft verändert sich stark. Inwiefern spielen die sozialen Medien eine Rolle für Ihre Arbeit?
Wir sind in den sozialen Medien präsent, zum Beispiel haben wir in den vergangenen zwei Jahren etwa 100 TikTok-Filme gemacht. Es war für uns enorm eindrücklich zu sehen, dass sich Jugendliche für das Thema Holocaust interessieren, diese Filme anschauen, um sich danach vertieft mit dem Thema auseinanderzusetzen.
Gleichzeitig scheinen Antisemitismus und auch Rassismus weltweit wieder zuzunehmen, generell die Intoleranz gegenüber Minderheiten. Stellen Sie sich je die Sinnfrage, was die Arbeit der Stiftung angeht?
Mein Vater gab der «Neuen Zürcher Zeitung» kurz vor seinem Tod im Jahr 2018 ein Interview. Er sagte: «Ich bin Realist. Der Weg von der Zivilisation zur Barbarei ist kurz». Meine Eltern kamen beide aus Deutschland. Einige Überlebende sagten mir jüngst, in den 30er Jahren habe es dort damals ähnlich begonnen. Ja, die Situation ist schwierig. Aber gerade deshalb müssen wir unsere Bildungs- und Sensibilisierungsarbeit jetzt intensivieren. Dass wir sehr viel Unterstützung für unsere Arbeit aus der Gesellschaft erhalten, stimmt mich zuversichtlich und ist herzerwärmend.