Schwerpunkt 17. November 2025, von Cornelia Krause

Für eine Stadt, die Teilhabe ermöglicht

Gesellschaft

Der Kirchenkreis sechs in Zürich baut sein Engagement für Demenzkranke aus. Dazu braucht es auch die Mithilfe von Geschäften und Vereinen vor Ort. 

Schon zum dritten Mal diese Woche steht die ältere Dame im Geschäft, um die gleiche Gesichtscreme zu kaufen. Apothekerin Katharina Holenweg ist ratlos. Soll sie sich einfach über den Umsatz freuen? Die Kundin auf ihre Vergesslichkeit ansprechen und vielleicht in eine unangenehme Lage bringen? Den Arzt zu kontaktieren, ist aus Datenschutzgründen heikel. «In so einem Fall wäre es wichtig zu wissen, wie man damit umgehen soll», sagt Holenweg. 


An diesem Samstag Ende Oktober steht sie hinter einem der rund ein Dutzend Stände der Tagung «Dialog Demenz» im Kirchgemeindehaus in Zürich Oberstrass. Daneben informieren Alzheimer Schweiz, die Spitex und eine auf ältere Klienten spezialisierte Ergotherapiepraxis. 

Breite Wirkung

Seit 2019 bringt der Kirchenkreis sechs alle zwei Jahre Fachpersonen und Betroffene zum Thema Demenz zusammen. Erkrankte und Angehörige zu entlasten, ist in Oberstrass diakonisches Schwerpunktthema mit diversen Angeboten. Die diesjährige Tagung soll besondere Wirkung entfalten: «Wir möchten, dass unser Kreis demenzfreundlich wird», sagt Sozialdiakonin Franziska Erni bei einem Gespräch im Vorfeld. «Dazu wollen wir lokale Vereine, Detailhandel, Ärzte, Apotheken und die Bevölkerung allgemein mit einbinden.» 


Das «demenzfreundliche Quartier» lautet das Thema der Veranstaltung und ist auch das jüngste Projekts des Kirchenkreises. Umgesetzt wird es gemeinsam mit der Stiftung Plattform Mäander, die 2022 aus der kantonalen Demenzstrategie hervorging und vor allem begleitend unterstützt. Die Geschäftsführerin Martina Hersperger blickt bei ihrer Arbeit auch ins Ausland, etwa nach Wien. «Nach einem Besuch dort war mir klar: Ein demenzfreundliches Quartier möchte ich auch im Kanton Zürich fördern», erzählt sie.

Wir haben die gleiche grundlegende Haltung: dass Menschen mit Demenz zur Gesellschaft gehören.
Martina Hersperger, Geschäftsführerin Stiftung Plattform Mäander

Dass nun dieser Stadtteil beim Pilotprojekt zum Zug kommt, begründet Hersperger mit der Vorarbeit des Kirchenkreises. Es gebe bereits viele Angebote, teils mit wichtigen Partnern wie der Spitex, die im Kirchgemeindehaus Oberstrass einen ihrer Standorte hat und Angebote unterstützt. «Und wir haben die gleiche grundlegende Haltung: dass Menschen mit Demenz zur Gesellschaft gehören und wir sie nicht ausschliessen dürfen», sagt Hersperger.


Das Ziel ist benannt, doch viele Details sind noch unklar. «Von der Tagung erhoffen wir uns Impulse darüber, was genau die Quartierbewohnerinnen und Betroffene unter einem demenzfreundlichen Quartier verstehen, wo die jeweiligen Bedürfnisse sind», sagt Erni. «Denn ganz wichtig ist uns, dass wir das Projekt gemeinsam mit den Quartierbewohnern entwickeln.» 

Orte der Begegnung, weniger Digitalisierung

An der Veranstaltung diskutieren die Teilnehmenden in Workshops, schnell wird die Bandbreite der Vorstellungen deutlich. Mehr Orte für Begegnungen im öffentlichen Raum wünschen sich einige Seniorinnen und Senioren. «Eine Bank macht es legitim, sich einfach hinzusetzen und zu sammeln», sagt eine Frau. Orte mit Wiedererkennungswert und viel Grün, sagt eine andere Teilnehmerin. Kritisiert wird die zunehmende Digitalisierung, etwa dass beim Billettkauf für Bahn, Bus und Tram das Smartphone immer wichtiger wird, was die Betroffenen schlichtweg überfordere. 


Neben praktischen Fragen geht es aber auch um die grundsätzliche Haltung der Gesellschaft zur Krankheit. Ein Betroffener mit bislang nur geringen Einschränkungen erzählt, wie in seinem Sportverein über Demenz gesprochen wird: «Viele sagen, wenn sie diese Diagnose erhielten, würden sie gleich Exit anrufen. Über meine Krankheit zu sprechen, traue ich mich gar nicht.» 

Kontrastprogramm zum Menschenbild der Moderne

Pfarrer Roland Wuillemin, der gemeinsam mit Erni den Schwerpunkt «Drehscheibe Demenz» im Kirchenkreis leitet, sieht das Tabu auch im Menschenbild der Moderne begründet. Demnach komme der Mensch zu seiner vollen Entfaltung, wenn er autonom sei, kognitiv auf der Höhe und sein Leben voll im Griff habe. «Die Demenz ist dazu quasi ein Kontrastprogramm.» 


Wuillemin wie auch viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Veranstaltung sind sich einig, dass es mehr Wissen über die Krankheit braucht und die Betroffenen sichtbarer werden müssen in der Öffentlichkeit. Aber eine gross angelegte Sensibilisierungskampagne werden der  Zürcher Kirchenkreis und die Stiftung Plattform Mäander kaum stemmen können. Hersperger befindet sich diesbezüglich jedoch im Austausch mit der Stadt Zürich. 

Die Stadt plant Kampagne

Diese arbeitet seit 2023 selbst an einem Pilotprojekt. Derzeit laufe die Ausschreibung für eine Sensibilisierungskampagne, die in Trams und an öffentlichen Orten zum Tragen kommen solle, sagt Stadtrat Andreas Hauri im Gespräch mit «reformiert.». Zudem sei der Aufbau einer Webseite geplant, die Angebote der Stadt sowie privater Stiftungen und Organisationen bündle. Im medizinischen Bereich sieht der Gesundheitsvorsteher die Stadt mit dem Stadtspital Zürich und Memory-Kliniken für die rund 7000 Betroffenen gut aufgestellt. «Nun geht es darum, das Bewusstsein der Bevölkerung für Demenz und die betroffenen Menschen zu erhöhen. Ziel muss sein, dass die Betroffenen so lange wie möglich in der Gesellschaft integriert sind.»

 
Während die Stadt mit Sensibilisierungskampagne und Webseite die breite Stadtbevölkerung anspricht, wollen Erni und Wuillemin im Quartier wirken. Denkbar sind für sie Stände mit Informationsmaterial zu Angeboten und lokalen Veranstaltungen. Ebenso Schulungen, etwa für Mitarbeitende der Detailhändler, damit sie auf Betroffene angemessen reagieren. Oder für Vereine, die so besser auf ihre älteren Mitglieder schauen können. Oft gehe es darum, die richtigen Ansprechpartner zu vermitteln. Für Schulungen sehen sie Alzheimer Zürich als möglichen Partner. 

Geduldiger werden

In der Workshopgruppe wünschen sich die Teilnehmenden mehr kleinere Hilfestellungen im Alltag: beim Einsteigen ins Tram, oder Geduld, wenn es an der Kasse beim Bezahlen etwas länger dauert. «Am Ende heisst Demenzfreundlichkeit doch einfach Menschenfreundlichkeit», sagt eine Seniorin. 


Neben den grossen Baustellen wie dem Ausbau von Tagesbetreuungsplätzen sind es einfache Massnahmen, die Unterschiede machen. Pfarrer Wuillemin erzählt von einem Mann, der in seiner Siedlung den Eingang zum Haus nicht mehr fand, weil alle Eingänge gleich aussahen. Täglich habe es nach dem Spaziergang Ärger gegeben, denn der Mann habe vom falschen Eingang nicht ablassen wollen. Bis sich eine Nachbarin ein ganz einfaches Signal überlegte: Sie stellte eine Sonnenblume vor die Tür.