Wien will demenzfreundlich werden. Was verstehen Sie darunter?
Sabine Hofer-Gruber: Wir wollen, dass möglichst viele Menschen in Wien wissen, wie man mit Demenzbetroffenen umgeht.
Von wie vielen Personen mit Demenz reden wir in der Zwei-Millionen-Stadt Wien?
Hier leben rund 30 000 Menschen mit der Krankheit. Wir schätzen, dass es bis 2050 mindestens doppelt so viele sein werden. Angehörige, Freundinnen und Freunde, Bekannte aus dem Umfeld kommen hinzu. Es geht also um eine grosse Gruppe von Menschen, und es ist wichtig, dass sie wissen, wie sie sich zum Thema informieren können.
Was sind die zentralen Bereiche, in denen Sie tätig sind?
Wir setzen bei vier Punkten an: Bei der Bevölkerung wollen wir ein Bewusstsein für die Krankheit schaffen, dann schauen wir uns die Lebensorte von Betroffenen an, und wir bemühen uns, ihre Teilhabe im Alltag zu verbessern. Hinzu kommen Unterstützungsangebote, um die sich der Fonds Soziales Wien kümmert. Er ist im Bereich der Pflege und Betreuung federführend.
Wie bringen Sie das Thema den Bürgerinnen und Bürgern nahe?
Da gibt es ganz vielfältige Ansätze. Mit dem Demenzstreifzug, einer Aktion zur Sensibilisierung der Bevölkerung, sind wir im öffentlichen Raum mit Informationsmaterial präsent, beispielsweise auf Strassen und Plätzen oder in Einkaufszentren. Markenzeichen ist der bunte Strichcode, der mittlerweile einen hohen Wiedererkennungswert hat. Ihn findet man nicht nur auf Tragetaschen, sondern aktuell auch auf einer Strassenbahn. Ausserdem haben wir einen animierten Erklärfilm zum Thema Demenz produziert. Er soll auf möglichst vielen Bildschirmen in der Stadt laufen, etwa in Kundenservice-Bereichen und in allen Bezirksämtern. In Planung sind darüber hinaus Schulungsmodule, die wir den Magistratsabteilungen, aber auch Firmen zur Verfügung stellen. Das ist unser nächstes grosses Projekt.
Gegründet wurde auch die Plattform «Demenzfreundliches Wien», der über 70 Institutionen angeschlossen sind. Ist die Koordination nicht kompliziert?
Mittlerweile sind es sogar schon mehr als 100. Das funktioniert sehr gut. Es ist wichtig, dass alle relevanten Player an Bord sind. Dazu gehören der öffentliche Nahverkehr, die Bundesbahnen, die Kirchgemeinden, Büchereien, Apotheken, Arztpraxen und alle Bezirksverwaltungen, die jeweils über eine eigene Ansprechperson zum Thema verfügen. Die dadurch entstehende Schwarmintelligenz hilft uns sehr. Es ist ein sich fortlaufend entwickelnder, partizipativer Prozess.
Inwiefern spielt das Thema bei der Stadtplanung eine Rolle?
Damit soziale Teilhabe möglich ist, braucht es auch bauliche Anpassungen. Das ist natürlich in Neubaugebieten einfacher als bei Altbestand. Ein Beispiel wäre: Fast jedes Haus verfügt über einen Abstellraum für Fahrräder oder Kinderwagen. Aber wieso gibt es keinen für Rollatoren? Und farbliche Hinweise können bei der Orientierung helfen. Gelb bleibt am längsten im Gedächtnis. Toiletten in der Nähe von Brunnen und Trinkgelegenheiten sind auch ganz wichtig. Es sind viele kleine Verbesserungen, die den Alltag für die Betroffenen leichter machen können.
Es gibt auch explizit demenzfreundliche Gottesdienste. Was ist das Besondere daran?
Bei der Gestaltung wird ein Augenmerk auf die Bedürfnisse von Menschen mit Demenz gelegt. Dadurch wird für sie und ihre Angehörigen oft überhaupt ein Gottesdienstbesuch wieder möglich. Konkret bedeutet das: Man ist toleranter, wenn jemand mitten im Gottesdienst aufsteht, um eventuell zur Toilette zu gehen. Da bleibt die Sakristei eben offen. Auch werden vermehrt Lieder gesungen, die ein Grossteil der Gemeinde gut kennt.
Sie sprachen vorhin die Angehörigen an. Welche Hilfe gibt es für sie?
Es gibt diverse Angebote, bei denen sich Demenzkranke zu Aktivitäten treffen und Angehörige so entlastet werden. Manche Tageszentren haben am Wochenende offen, so dass Angehörige auch mal an Familienfeiern teilnehmen können. Und es gibt das Netzwerk für pflegende An- und Zugehörige mit kostenlosen Angeboten, die unterstützen und entlasten. Zudem ist der Fonds Soziales Wien mit seinem Service für Kundinnen und Kunden jeden Tag für Betroffene und Angehörige telefonisch erreichbar.
