Schwerpunkt 29. Oktober 2025, von Hans Herrmann

«Etwas, wofür sich kaum Worte finden»

Mystik

Spirituelle Erleuchtungsmomente sind ein heilsames Gegengewicht zur medial überfluteten Welt. Doch rein selbstbezogen dürfe Mystik niemals sein, mahnt der Philosoph Luca Di Blasi.

Ist es eine mystische Erfahrung, wenn ich auf einem Waldspaziergang plötzlich vom tiefen Bewusstsein ergriffen werde, Teil von etwas Grösserem zu sein?

Luca Di Blasi: Solche intensiven Naturgefühle sind für sich genommen noch keine Mystik. Zwar ist die Einheitserfahrung ein relevanter Teil mystischen Erlebens. Aber gerade naturmystische Empfindungen haben auch etwas Zweideutiges. Sie können als Ausdruck der Ehrfurcht vor der Schöpfung und des Schöpfers gedeutet werden – aber auch als romantische Schwärmerei im Schoss einer vom Menschen mitgestalteten, gezähmten und befriedeten Natur. Einer Natur also, die gar nicht mehr in ihrer ganzen Tiefe erlebbar ist, mitsamt ihren unheimlichen und bedrohlichen Seiten.

Was ist dann also Mystik?

Etwas, das sich per se schlecht definieren lässt. Der Theologe Volker Leppin nennt einige Merkmale der Mystik. Vier davon scheinen mir besonders wichtig. Erstens: die Einheitserfahrung, also Momente der tiefen Verbundenheit des Ich mit dem Göttlichen. Zweitens: Mystische Erfahrungen sind kaum zu beschreiben, denn sie gehen über das Denken hinaus. Mystisches Reden geschieht daher oft in Negativa: sagen, was Gott nicht ist – statt zu definieren, was er ist.

Also ähnlich wie Buddha, der das Nirvana als Ort beschrieb, in dem es kein Unten und kein Oben, kein Gut und kein Böse gibt?

Ja, genau. Das sind Versuche, Unbegreifliches in etwas Begreifbares zu übersetzen. Ein drittes Charakteristikum der Mystik ist, dass Transzendenzerfahrungen nicht willentlich erzeugbar sind. Man kann ihnen mit spirituellen Übungen bloss die Tür öffnen. Und stellen sie sich ein, haben sie verändernde Wirkung.

Luca Daniele Di Blasi, 58

Luca Daniele Di Blasi, 58

Er studierte Germanistik und Philosophie in Wien. 2003 bis 2006 wirkte er als Postdoktorand am Projekt «Mystik und Moderne» an der Universität Siegen mit. Luca Di Blasi lehrt als assoziierter Professor an der Theologischen Fakultät der Universität Bern Philosophie. Soeben ist seine umfangreiche Monografie «Die Politik der Schuld» bei Matthes & Seitz erschienen.

Und viertens?

Mystische Momente sind zeitlich begrenzt und nicht festzuhalten.

So ergeht es auch Goethes Faust, wenn er am Ende des Dramas einen geradezu mystischen Schlüsselmoment anfleht: «Verweile doch, du bist so schön!»

Bei diesem Ausspruch muss man bedenken, in welchem Kontext er steht. Laut einer Abmachung verfällt Faust dem Teufel, sobald es diesem gelingt, dem unablässig Suchenden einen Augenblick tiefster Befriedigung zu verschaffen. Am Ende des Dramas kommt es zu einem solchen Moment. Im Grunde jedoch macht ihn Faust zunichte, denn: Sobald wir uns wünschen, dass ein Moment verweilt, kommt der Wille ins Spiel, und dieser verscheucht etwas von der kostbaren Ruhe des Augenblicks. Es ist wie mit dem Handy: Den wahren Reiz unserer schönen Momente können wir mit dem willentlichen Akt des Knipsens niemals festhalten.

Stichwort Handy: In unserer medial überfluteten Zeit sehen sich viele Menschen nach mehr Ruhe und Innerlichkeit. Könnten mystische Praktiken eine Antwort sein?

Ich habe durchaus den Eindruck, dass das Interesse erwacht, gerade auch bei den Reformierten, die der Mystik ja lange distanziert gegenüberstanden. Die heutige Zeit erzeugt eine Zersplitterung der Aufmerksamkeit, wir haben vermittels Mausklick raschen Zugang zu allem. Das lenkt ab, überfordert, führt uns weg von unseren eigenen Gedanken. Dabei kommt der Wunsch nach einem Gegengewicht auf, nach mehr Ruhe und Innerlichkeit. Geistige Übungen bieten sich an, aber auch Schweigen, Fasten und geistiges Fasten, also eine temporäre Medienabstinenz. So lässt sich Raum für eine neue Aufmerksamkeit schaffen, auch für Gebet und Religion – und damit für Mystik.

Es heisst, dass sich mystische Erleuchtungsmomente in allen Religionen so sehr ähneln, dass sie das ideale Bindeglied zwischen den Religionen sind. Stimmt das?

Mystische Traditionen spüren zueinander grosse Nähe, das ist richtig. Wir können uns den Erfahrungen aus den verschiedenen Religionen und Kulturen jedoch nur beschreibend und vergleichend nähern, exakte Aussagen lassen sich nicht machen. Erstens, weil es, wie ich hier bereits dargelegt habe, schwierig ist, mystisches Erleben in Worte zu fassen. Und dort, wo es geschieht, stehen wir vor der Aufgabe, das Gesagte aus der Originalsprache möglichst treffend zu übersetzen. Im Übrigen gibt es zwischen der Mystik der abrahamitischen und jener der fernöstlichen Religionen durchaus auch Unterschiede.

Weil Mystik grenzüberschreitend ist, werden auch Hierarchien oder Geschlechterrollen infrage gestellt.

Welche?

Es geht um die Einheitserfahrung. Im Judentum, Christentum und dem Islam verschwindet das menschliche Selbst nicht einfach in Gott, denn Gott steht grundsätzlich immer ausserhalb seines Geschöpfs. Die fernöstlichen Traditionen hingegen tendieren eher dazu, die Einheit von Individuum und dem Göttlichen zu betonen.

Steht das Denken der mystischen Erleuchtung im Weg?

Zwar lassen sich mystische Erfahrungen in ihrem Wesen nicht mit dem Denken erfassen. Aber es wäre ein Trugschluss zu glauben, dass beides nicht zusammenpasst. Im Gegenteil: Die Wahrheiten, die in mystischem Erleben aufscheinen, sollen bewahrt werden, und hierzu ist das Denken sehr wichtig. Eindrücklich zeigt dies zum Beispiel der neuplatonische Philosoph Plotin im 3. nachchristlichen Jahrhundert. Eigene spirituelle Erfahrungen reflektierte er philosophisch. Sein mystisches Gebäude ist eine Verbindung aus Erfahrung und Denken. Daraus folgt: Mystik und Theologie schliessen sich nicht aus, sie befruchten sich gegenseitig.

Mystikerinnen und Mystiker sind bei den Institutionen, welche die offizielle Lehre der jeweiligen Religion hüteten, oft unter Ketzereiverdacht geraten. Warum?

Die Vorstellung, dass der Mensch ein Gegenüber von Gott ist und sich nicht vollständig mit ihm verbinden kann, ist in den drei abrahamitischen Religionen theologisch zentral. Entsprechend fürchteten deren Autoritäten beziehungsweise Institutionen, dass mystische Praktiken, die ja gerade das Einssein mit dem Göttlichen anstreben, eine Aufweichung dieses trennenden Prinzips bewirken könnten. Und: Weil Mystik grenzüberschreitend ist, werden auch Hierarchien oder Geschlechterrollen infrage gestellt. Das birgt gesellschafts- wie auch kirchenpolitischen Zündstoff.

Für die Freiheit braucht es beides: die Institution und den Raum ausserhalb. Wichtig ist, dass die Institutionen nicht erstarren, sonst wird es in der Tat schwierig.

Dann also weg mit den Institutionen, die zwischen dem Menschen und seiner unmittelbaren Gotteserfahrung stehen.

Die heutige Institutionskritik, die Vorstellung vom schönen, freien Leben ausserhalb der Institutionen, mutet bisweilen etwas naiv an. Für die Freiheit braucht es beides: die Institution und den Raum ausserhalb. Wichtig ist, dass die Institutionen nicht erstarren, sonst wird es in der Tat schwierig. Mystik erinnert die Institutionen daran, wozu sie da sind: nicht zur Selbsterhaltung! Bleiben die Institutionen offen für den Menschen und seine Bedürfnisse, bleiben sie lebendig.

Aber hat Mystik überhaupt eine mitmenschliche Dimension? Ist ihr Ziel nicht vorab die persönliche Gotteserkenntnis?

Tatsächlich besteht die Gefahr, dass eine entkoppelte Mystik das mitmenschliche und karitative Element aus den Augen verliert. Richtig eingebettet öffnet sie aber das Ego zum Gegenüber und führt zu diakonischer Praxis. Es braucht beides, einerseits das Herz und andererseits das Bekennen beziehungsweise das, was an Taten folgt. Davon spricht Paulus im zehnten Kapitel des Römerbriefs: «Denn wer mit dem Herzen glaubt, wird gerecht; und wer mit dem Munde bekennt, wird selig.» Ohne diese Dimension geht es nicht. Für die Wahrheit will öffentlich eingestanden sein.