Schwerpunkt 29. Oktober 2025, von Marie-Christine Andres

Im Waldkloster – Staunen über Wunder und Verbindung mit Gott

Mystik

Beim Staunen über die kleinen Wunder der Natur wächst die Verbundenheit mit Gott.

Die Augustsonne steht bereits ein Stück über den Baumwipfeln, ihre Strahlen fallen auf die Waldwiese. Janique, Karl, Cornelia, Anita und Ursula strecken sich der Wärme entgegen und schütteln die Feuchtigkeit und Kälte der Nacht ab. Sie haben im Zelt auf der Wiese oder unter dem Blätterdach im Wald nebenan geschlafen.

Vor dem Cevi-Haus am Waldrand wäscht mir Cornelia die Füsse. Nach diesem Begrüssungsritual steigen wir auf einem kurzen Pfad hinab in den Wald und betreten einen Platz mit Feuerstelle, Sitzkreis und Gebetsplatz. Überall entdecke ich verspielte Kunstwerke aus Waldmaterial: ein Mobile aus Zweigen, Türme aus Steinen, ein Bild aus Aststücken. Spuren der letzten Tage, die im Wechsel von Werken, Kochen, Essen und Schlafen, Geselligkeit und Beten vergangen sind. 

Ein einfaches Kloster

Hier im Wald oberhalb von Altstetten nahe der Stadt Zürich haben sich die Teilnehmenden des Waldklosters eingerichtet und geniessen den Luxus, Handy, Uhr und Terminplan beiseitezulegen, mit der Sonne aufzustehen und im eigenen Rhythmus in den Tag hineinzuleben.

Sie alle sind verbunden mit dem Verein «Stadtkloster Zürich», den es seit zehn Jahren gibt. Die Idee, das Stadtkloster für eine Woche in den Wald zu verlegen, hatte Karl Flückiger. Der reformierte Pfarrer, Organisationsberater und Psychotherapeut engagiert sich seit den Anfängen für das Stadtkloster. Im Sommer 2024 fand unter dem Motto «Stadtkloster goes wild» zum ersten Mal eine Waldwoche statt. 

Im Waldkloster

Ein Platz zum Schlafen, ein Platz zum Essen und ein Platz zum Beten: Das Leben im Waldkloster ist einfach. Und doch geniessen die Teilnehmenden während einer Woche im Wald seltenen Luxus. Sie legen Handy, Uhr und Terminplan zur Seite, stehen mit der Sonne auf und leben im eigenen Rhythmus in den Tag hinein. Wo die Geräusche des Waldes die innere Stimme zum Klingen bringen, wächst die Verbundenheit mit Gott.

Die Woche im Altstetterwald ist nun die zweite Ausgabe des Waldklosters. «Es ist ein einfaches Kloster», sagt Janique Behman, «wir haben einen Ort zum Beten, zum Essen und zum Schlafen.» Behman ist Vorstandsmitglied beim Verein Stadtkloster und lebt zusammen mit Geflüchteten und Gästen in der Stadtkloster-Wohngemeinschaft in einem ehemaligen Pfarrhaus in Zürich-Wiedikon.

Gemeinsam im Wald

Im Waldkloster sind alle Interessierten willkommen. Einige bleiben die ganze Woche, andere nur ein paar Tage oder für eine Nacht. Die Teilnehmenden kochen auf dem Feuer, streifen schweigend durch die Gegend, halten gemeinsam Tagzeitengebete, schlafen im Freien, diskutieren, hantieren mit Lehm, Steinen und Holz oder lauschen dem Pfeifen der Vögel und ihrer inneren Stimme. Wasser und sanitäre Anlagen nutzt die Gruppe im nahen Cevi-Haus.

Im Lauf des Tages kommen neben mir noch Tobias, Rahel, Werner, Ismael und Khalid dazu und unsere Gruppe wächst von sechs auf zwölf Personen an. «In den ersten Tagen waren noch mehr Menschen aus verschiedenen Religionen dabei, Kinder und Erwachsene», berichtet Janique Behman. 

Das Tagesthema lautet «Weg». Nach der Einstimmung im Sitzkreis macht sich für eine Gehmeditation jeder auf seinen eigenen Weg. Das bewusste Gehen schärft die Sinne: Wie fühlt sich der Untergrund an? Was streift meinen Arm? Wie weit weg ist das Summen dieser Mücke?

«Meine Füsse und der Boden haben sich gegenseitig erkundet, es war fast zärtlich», berichtet Cornelia nach der Meditation. «Ich hatte auf dem Rückweg das Gefühl: Ich habe mir diesen Weg angeeignet, indem ich ihn zuvor gegangen bin», sagt Ursula. Und Anita erzählt: «Ich ging auf dem Weg und spürte: Hier ist mein Revier.» 

Das Revier der Spinne

Beim Gehen querwaldein, abseits eines Pfades, durch das Gewirr der Äste und durch das Unterholz, habe sich das aber geändert: «Ich duckte mich unter einem Spinnennetz, das zwischen den Ästen hing und merkte: Hier ist das Revier der Spinne.»

Wir kochen unser Mittagessen auf dem Feuer, danach lädt uns Tobias zu einem Workshop zum Thema Ökospiritualität ein. Jeder sucht sich einen Rückzugsort, um dort zu schauen, zu hören und zu spüren, was die Natur ihm predigt.

Das Muster der Ameisen

Sitzend auf einem umgefallenen Baumstamm betrachte ich das Leben zu meinen Füssen. Ich verfolge, wie sich ein Wurm, Erde vor sich herschiebend, aus dem Boden kämpft. Dabei türmt er die Erde zu einem baumnussgrossen Häufchen auf. Schon oft habe ich solche zuhause im Rasen gesehen, nun habe ich zum ersten Mal beobachtet, wie eines entsteht.

Ameisen eilen hin und her, auf den ersten Blick wirr durcheinander. Beim längeren Hinsehen entdecke ich aber Muster. Die Ameisen folgen einem Plan, den vielleicht nur sie kennen. Fragen gehen mir durch den Kopf: «Welchem Plan folge ich? Ist es eine Anmassung, überhaupt Pläne zu machen und zu verfolgen?»

Je länger ich auf dem Baumstamm sitze, die Sonne mir die Schultern wärmt und die Ameisen ihre Bahnen ziehen, desto klarer dringt ein Gedanke in mein Bewusstsein: «Mach einfach mit.» Die Natur nimmt ihren Lauf, sie folgt den ewigen Gesetzen von Werden und Vergehen. Ich bin Teil davon. Und ich darf einfach mitmachen. Mich nicht querstellen, sondern mich hineingeben. Aufmerksam und voller Vertrauen, dass alles seinen richtigen Lauf nimmt.

Als wir uns wieder treffen, tauschen wir unsere Erfahrungen aus. Rahel hat ein Spinnennetz beobachtet, gesehen, wie es die Bewegungen des Windes mitmacht, ohne zu zerreissen. Werner hat einen alten Baum betrachtet, «ein riesiges, starkes Geschöpf». Anita hat das Blätterdach über dem Sitzkreis bewundert, das wie eine schützende Hand über uns allen schwebt. 

Was die Brennnesseln predigen

Karl schmunzelt und erklärt, er habe versucht, herauszufinden, was die Brennnesseln ihm predigen. Hinter der aggressiven Fassade stecke eine Pflanze, die Schmetterlingen Nahrung und Unterschlupf biete. «Ich spüre, wie wir mit den anderen Geschöpfen verbunden sind, wir atmen den gleichen Sauerstoff», sagt Tobias.

Die Teilnehmenden am Waldkloster sind Menschen, die in Verbindung kommen wollen mit Gott und seiner Schöpfung. Es sind Menschen, die sich viele Gedanken machen über das Leben, die Welt und gelebte Solidarität. Das Nachdenken über Gott ist im Waldkloster verbunden mit praktischer Tätigkeit. 

Wer hier ist, knetet Teig, schnitzt Stöcke, flicht Zweige und sammelt Rinde. Dabei reift die Erkenntnis, wie wenig es eigentlich braucht, um zu gestalten und sich daran zu freuen. Die Fülle der Schöpfung umgibt und inspiriert uns alle. Karl findet dafür die Worte: «Ich brauche so wenig und habe doch alles.»