«Ein ‹Denkmal› allein reicht heutzutage nicht mehr aus»

Gegen das Vergessen

Jonathan Kreutner, Generalsekretär des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes, über das geplante Memorial für die Opfer des Nationalsozialismus in Bern. 

Der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG) hat sich seit Jahren für ein Denkmal für die Opfer des Nationalsozialismus eingesetzt – obwohl die Wirkung von Denkmälern immer häufiger in Frage gestellt wird. Warum braucht es das Memorial? 

Jonathan Kreutner: Im Jahr 2023 hat der Bundesrat über die Umsetzung des Erinnerungsorts in Bern entschieden. Das Memorial-Projekt stützt sich auf drei Pfeiler: Erinnern – Vermitteln – Vernetzen. Für uns ist es wichtig, dass es  in der Schweiz einen zentralen, für alle zugänglichen Erinnerungsort gibt, und zwar in der Bundeshauptstadt Bern, wo die politischen Entscheide getroffen wurden. Aber ein «Denkmal» allein reicht heutzutage nicht mehr aus. Es braucht auch einen Ort der Vermittlung, um den Menschen die Geschichte und Zusammenhänge zu erklären. Nur durch das Wissen über die Vergangenheit entsteht Verantwortung für die Zukunft.

Erinnerung als Prävention?

Genau. Es ist aber nicht das Ziel, den Zeigefinger zu erheben oder den Menschen drei Generationen später eine Schuld aufzubürden. Es geht vor allem darum, das Bewusstsein zu schärfen für die Geschichte, die unsere Gegenwart beeinflusst und die als Mahnung für die Zukunft gelten soll. Das Memorial-Projekt muss aufzeigen, was tief verankerter Antisemitismus auslösen kann, nämlich, dass man grundlegende menschliche Werte ignoriert. 

Jonathan Kreutner

Kreutner wuchs in Zürich auf und studierte an der Universität Zürich Geschichte, deutsche Literatur und Allgemeines Staatsrecht. Er ist seit 2009 Generalsekretär des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes (SIG). Seit Anfang 2020 ist er Mitglied der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus (EKR).

In Berlin ist unter dem Holocaust-Mahnmal ein Ausstellungsraum. Die Informationsstätte für das Schweizer Memorial wird aber im Kanton St. Gallen sein. Warum?

In Bern ist der Platz beschränkt. Zudem macht es Sinn, dorthin zu gehen, wo sich die Fluchtgeschichten ereigneten. An der Ostgrenze, in Diepoldsau, nahm die Fluchtbewegung der Jüdinnen und Juden in die Schweiz ihren Anfang, mit dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich 1938. Die Vermittlung von Wissen wird von dort ausgehen, wo die Geschichte Gesichter bekommt, fassbar und nahbar ist. Dieses Vermittlungszentrum im St. Galler Rheintal ist mir auch wegen meiner eigenen Familiengeschichte ein grosses Anliegen. 

Inwiefern? 

Meine Grosseltern flüchteten 1938 aus Wien und wurden in Diepoldsau vom damaligen Zollchef Alfons Eigenmann über die Grenze gebracht und versteckt – in genau jenem Gebäude, in dem künftig  das Vermittlungszentrum untergebracht werden soll. Eigenmann hat damals den St. Galler Polizeikommandant Paul Grüninger kontaktiert, der Hunderte Jüdinnen und Juden rettete. Ich bin mit dem Ort also persönlich eng verbunden.

Die Schweiz war lange Zeit nicht gezwungen, ihre eigene Geschichte kritisch zu hinterfragen.

Auch an anderen Orten an den Grenzen gibt es kleinere Erinnerungsstätten. Wie werden sie eingebunden in das Gesamtkonzept des Memorials?

Die Vernetzung ist der dritte Aspekt des Memorials. Es ist eine Herausforderung, sowohl die verschiedenen, bereits existierenden Erinnerungsorte in der Schweiz als auch die wissenschaftlichen Institutionen und Initiativen, die sich mit dem Thema befassen,  zu verbinden und dieses Netz sichtbar zu machen. Der Aufbau des Netzwerks und die Realisierung des Vermittlungszentrums an der Grenze werden vom Bundesamt für Kultur unterstützt. In das Gesamtprojekt sind zahlreiche Stellen engagiert: der Bund, die Stadt Bern, der Kanton St. Gallen, das Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich, die Universität Basel und der SIG.

Warum hat es so lange gedauert, bis die Schweiz mit einem Denkmal an die Opfer der NS-Zeit erinnert?

Das hat sicher auch mit der Erinnerungskultur und dem Umgang der Schweiz mit der eigenen Geschichte zu tun. Die Schweiz war lange Zeit nicht gezwungen, ihre eigene Geschichte kritisch zu hinterfragen. Die Aufarbeitung der Geschichte hat später eingesetzt und wurde in den 90er Jahren vor allem durch äusseren Druck und verbunden mit finanziellen Forderungen herbeigeführt. Gleichzeitig wurde die Debatte über die Rolle der Schweiz in der Öffentlichkeit polarisierend geführt und über «Schuld» und «Verantwortung» kontrovers debattiert. Trotz der geschichtlichen Aufarbeitung, etwa durch die Berichte der Bergier-Kommission, führte das leider nicht zu einer nachhaltigen Auseinandersetzung mit der Geschichte. 

Sehen Sie weitere Unterschiede in der Entstehung von Erinnerungskultur im Vergleich zu anderen Ländern?

Besonders ist, dass die Aufarbeitung in den Sprachregionen unterschiedlich geschah. In der Deutschschweiz kamen erste Diskussionen über Mitverantwortung durch die Fernsehserie Holocaust Ende der 70er-Jahre auf. In der Westschweiz Mitte der 80er-Jahre durch einen Dokumentarfilm von Claude Lanzmann, es hiess «Shoah». Deswegen etablierten sich in den Landesteilen unterschiedliche Begriffe. 

Der Zweite Weltkrieg und die nationalsozialistische Verfolgung veränderten die Welt und prägten die nachfolgenden Generationen bis zum heutigen Tag.

Was gab den Anstoss für das Memorial?

Die Initiative ging 2018 von der Auslandschweizer-Organisation ASO aus. Ausgehend von neuen Forschungen zu den Schweizer Opfern in Konzentrationslagern sah die ASO damals das Momentum, ein Denkmal für die Schweizer Opfer zu lancieren.  Sehr rasch gab es einen Konsens, das Projekt auf alle Opfer des Nationalsozialismus zu erweitern. Unter diesem Aspekt erarbeitete eine Projektgruppe, der auch der SIG angehörte, ein Konzept. 2021 wurde es dem Bundesrat übergeben und bildet die Grundlage des heutigen Vorhabens. Entscheidend war, dass das Memorial zeitgleich Unterstützung aus dem Parlament bekam: 2021 wurden im Stände- und im Nationalrat zwei gleichlautende Motionen eingereicht, um den Bund in die Verantwortung zu nehmen. Zur grossen Überraschung aller wurden die Motionen in beiden Kammern einstimmig angenommen. 

Wie erklären Sie die Tatsache, dass erst sehr lange nichts passierte, und dann plötzlich ein grosser Konsens bestand?

Manche Entwicklungen in der Schweiz dauern wohl länger.  Der Zweite Weltkrieg und die nationalsozialistische Verfolgung veränderten die Welt und prägten die nachfolgenden Generationen bis zum heutigen Tag. Das Thema hat leider nichts von seiner Aktualität verloren. Wenn man aus der Vergangenheit «Lehren» ziehen und die Gegenwart besser verstehen möchte, ist die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte wichtig. Die Entscheidung von Bund und Parlament, ein Schweizer Memorial für die Opfer des Nationalsozialismus zu errichten, ist deshalb folgerichtig. Denn die Auswirkungen der NS-Zeit betreffen die Gesellschaft als Ganzes, nicht nur die Menschen, die unmittelbar betroffen waren und Familienangehörige verloren haben.