Schwerpunkt 28. Juli 2021, von Nadja Ehrbar

«Da hatte ich sicher auch Glück»

Am Gericht

Der forensische Psychiater Frank Urbaniok schaltet sich immer wieder in die öffentliche Debatte ein. Gutachter müssten neutral sein und sich der Kritik stellen, fordert er.

Kurz geschorenes Haar, eine markante Nase, ein silberner Ring im Ohr: Der Kopf und der Name des gebürtigen Kölners Frank Urbaniok sind in der Schweiz bekannt. Der forensische Psychiater war zwischen 1997 und 2018 Chefarzt des Psychi­atrisch-Psychologischen Dienstes des Kantons Zürich. Er äusserte sich in jener Zeit oft öffentlich.

Heute arbeitet er als selbstständiger Gutachter, Berater, Therapeut und Troubleshooter bei Krisen aller Art. Er ist als Experte für Gewalt- und Sexualverbrecher nach wie vor gefragt. In gesellschaftliche Diskussionen schaltet er sich ein, sofern er das als nötig erachtet.

So geschehen im Vierfachmord von Rupperswil, Ende 2018. Es ging um die Therapierbarkeit des Täters. Die beiden Gutachter diagnostizierten eine Pädophilie, der eine zudem eine narzisstische, der andere eine zwanghafte Persönlichkeitsstörung. Doch weshalb der Mann die Tat begangen hatte, blieb offen. «Hier eine Therapie zu empfehlen, ist falsch», kritisierte Urbaniok öffentlich. «Nur wenn ein Gutachter die Tat erklärt, kann er auch berurteilen, wie wahrscheinlich es ist, dass der Täter erneut delinquiert, und was sich ändern muss, damit das Risiko sinkt.»

Kein Interesse am Urteil

Die Hauptfunktion eines Gutachtens sei es, dem Gericht eine Entscheidungsgrundlage für ein Urteil zu liefern, sagt Urbaniok. Der Gutachter sei also kein Richter, sondern ein neutraler Sachverständiger. «Er darf weder ein Interesse daran haben, dass der Beschuldigte verurteilt wird, noch dass es zu einem Freispruch kommt.»

Das Gesetz erachtet ein Gutachten dann als notwendig, wenn das Gericht einem Täter therapeutische Massnahmen auferlegt, eine Verwahrung anordnet oder Zweifel an der Schuldfähigkeit hat. Dabei muss es drei Fragen klären. Wie gefährlich ist ein Täter? Ist er therapierbar? Und: Ist er schuldfähig? Konnte er also zum Zeitpunkt der Tat einsehen, dass er ein Unrecht getan hat, und hätte er sich auch gegen die Tat entscheiden können?

Urbaniok verlässt sich bei der Beurteilung immer auch auf seine Erfahrung und Intuition. Aber damit die Fälle für alle Beteiligten nachvollziehbar sind, hat er «Fotres» entwickelt. Das Verfahren soll bei Tätern die Rückfallwahrscheinlichkeit bestimmen. Dafür wird jeder einzelne Fall anhand von über 700 Kriterien durchleuchtet.

Irrtum nicht ausgeschlossen

Der 58-Jährige erzählt ausführlich, er erklärt Fachbegriffe und illus­triert seine Aussagen mit Beispielen. Urbaniok hat den Attentäter Friedrich Leibacher, der vor 20 Jahren im Zuger Parlament 14 Menschen erschossen und sich selbst gerichtet hatte, nach dem Tod begutachtet. «Das war kein unbescholtener Bürger, der einfach durchgedreht ist.» Leibacher habe Gewalttaten verübt, seit er 15 war, krumme Geschäfte gemacht und seine Frauen verprügelt. «Die Tat war für ihn ein Mittel, seine Interessen durchzusetzen.»

Auch ein Gutachter kann sich irren. Ein fataler Fehler sei ihm, soviel er wisse, noch nie passiert, sagt Urbaniok. «Da hatte ich sicher auch Glück.» Ein Jurist könne aber beurteilen, ob ein Gutachten etwas tauge. Es müsse plausibel sein und das Delikt erklären. «Deshalb wehre ich mich dagegen, dass ein Gutachter unangreifbar sei.»