Schwerpunkt 07. September 2017, von Luzia Sutter Rehmann

Dürfen wir uns auf das Jüngste Gericht freuen?

Theologie

Am Jüngsten Tag werden die Bücher des Lebens aufgeschlagen. Theologieprofessorin Luzia Sutter Rehmann über Hunger nach Gerechtigkeit und Tränen vor dem Gericht.

Für viele Menschen, die auf Erden durch die Hölle gehen, ist das Jüngste Gericht mit einer realen Hoffnung verbunden: Irgendwann wird es Gerechtigkeit geben. Eine wichtige und schöne biblische Vorstellung ist jene der Bücher des Lebens, die vor Gericht geöffnet werden (Offb 20,12): «Da wurden Bücher aufgeschlagen, und noch ein Buch wurde aufgetan: das Buch des Lebens.» Ein ähnliches Bild findet sich bereits in den Psalmen: «Mein Elend hast du aufgezeichnet, meine Tränen sind verwahrt bei dir. Steht nicht alles in deinem Buch?» (Psalm 56,9).

Die Opfer kommen zu Wort. In der Befreiungstheologie steht das Jüngste Gericht für die Vorstellung, dass die Gerechtigkeit das letzte Wort haben wird. Menschen kann man zum Schweigen bringen. Die Frage nach der Gerechtigkeit verstummt nicht. Sie geht über den individuellen Tod hinaus, überlebt alles. Die Verhungerten, Ertrunkenen, Ermordeten, Gefolterten, Verschleppten werden endlich zu Wort kommen und sagen können, was ihnen widerfahren ist.

Die Wahrheitskommission in Südafrika nach dem Ende der Apartheid kommt dieser befreiungstheologischen Vision nah: Die Angehörigen der Verschollenen und Toten konnten ihre Klagen und Fragen vorbringen. Die Täter mussten ihnen Rede und Antwort stehen. Dabei ging es in erster Linie um das Offenlegen der Wahrheit, nicht um juristische Strafen.

Gott ist kein Samichlaus. Unsere Vorstellung vom Gericht ist oft fokussiert auf uns selber oder einzelne Menschen, auf gute und schlechte Taten, die einen dereinst in den Himmel oder in die Hölle bringen. Es ist fast wie beim Samichlaus: Nimmt er mich im Sack mit, und ich wer­de fürchterliche Angst haben müssen? Doch der biblische Gott ist kein Chlaus. Für mich geht es beim Jüngsten Gericht nicht so sehr um Einzeltäter, auch wenn sie Fürchterliches verbrochen haben mögen. Es geht vielmehr um die Kulturen des Todes, um die Gesellschaften der Zerstörung und Unterdrückung, die beendet werden sollen. Ich denke das Gericht global, weit, bezogen auf die Millionen Vertriebenen heute, auf die Klimakatastrophe auch, auf die Hungernden in der Welt und alle, die auch bei uns leiden. Das Jüngste Gericht zeigt auf, was wir strukturell schon im Hier und Jetzt ändern müssten.

Der Einzelne ist nicht so wichtig, wie wir oft denken. Mein persönliches Handeln kann einiges bewirken, für gesellschaftliche Veränderungen aber braucht es mehr Kräfte. Im Minimum «zwei oder drei in meinem Namen» (Mt 18,20), besser Hunderte, Tausende. Wir lesen die Bi­bel oft individualistisch, dabei betont sie immer das Kollektiv. So meint Adam in der Schöpfungsgeschichte (Gen 2,7) nicht einfach den Mann Adam, sondern das ganze Projekt Menschheit, die fragile Menschlichkeit, die immer wieder mit Füs­sen getreten wird und oft sogar den Kopf verliert oder andere Glieder – wie es einer Tonfigur leicht geschehen kann. Adam ist dennoch das von Gott geliebte Projekt, das seine Spuren auf sich und in sich trägt. Und da Adam immer wieder in Schwierigkeiten gerät, lässt Gott ihm Hil­fe wachsen, einen Ausweg: den Messias. Auch er steht für die kollektive Hoff­nung auf eine bessere Welt und nicht in erster Linie für einen Retter als Individuum.

Der Messias als Körper. Paulus sprach von seinem Messias Jesus als einem Körper, der aus vielen Gliedern besteht. Als einzelner Mensch kann ich ein winziger Teil dieses Hoffnungskörpers sein und mithelfen, dass die Welt gerechter wird. Vielleicht schaffe ich das auch nur zeitweise und nicht mein Leben lang.

Sollte es das Jüngste Gericht geben, werde ich dort wahrscheinlich viel weinen, weil ich erkennen werde, was ich zu Lebzeiten nicht erkannt habe. Aber ich werde auch erleichtert sein. Nun muss ich nichts mehr tun, kann nichts ändern, es ist, wie es ist.

Luzia Sutter Rehmann (57)

Die Titularprofessorin für Neues Testament an der Universität Basel ist auch Studienleiterin beim Arbeitskreis für Zeitfragen der refor­mier­ten Bieler Kirchen. Ihr neustes Buch: Wut im Bauch. Hunger im Neuen Testament (2014).