Schwerpunkt 25. September 2024, von Isabelle Berger, reformiert. und Jeanne Göllner, Bauernzeitung

«Die ständige Kritik ist hart für die Bauern»

Gesellschaft

Blaise Hofmann ist Bauernsohn und Autor. Er plädiert im Gespräch und in seinem Buch «Die Kuh im Dorf lassen» für mehr Dialog zwischen Bauern und urbaner Bevölkerung. 

Was sind die Probleme der Schweizer Landwirtschaft aus Ihrer Sicht?

Blaise Hofmann: Die Bauerndemonstrationen Anfang des Jahres forderten weniger bürokratischen Aufwand und eine gerechtere Entlohnung. Es wird uns jedes Jahr aufs Neue gesagt: Jeden Tag verschwinden zwei bis drei landwirtschaftliche Betriebe. Nur noch zwei Prozent der Bevölkerung sind noch Bauern. 1950 waren es noch deren 20. In meinem Buch geht es jedoch vor allem um die menschliche Seite. Ich hinterfrage den Sinn des Berufs, die Darstellung der bäuerlichen Welt in der Gesellschaft, Fragen der Würde und der Anerkennung. Mich interessierte, wie die Leute die Bauern sehen, warum diese immer kritisiert werden und wie sie reagieren.

Wir müssen ver­stehen, dass die Landwirtschaft wesentlich ist.

Sie schreiben im Buch, dass Sie von der Zeit vor der Abstimmung über die Pestizid- und Trinkwasser-Initiative inspiriert wurden. Damals herrschte eine gehässige Stimmung zwischen den Bauern und dem Rest der Bevölkerung.

Ich weiss nicht, ob es eine Inspiration, ein Schock oder ein Unwohlsein war. Ich komme aus der landwirtschaftlichen Welt, meine vier Grosseltern, meine Eltern und Cousins sind Bauern, und ich wuchs als Bauernkind auf. Ich habe eine erdgebundene Seite und eine universitäre, journalistische, schriftstellerische und städtische, die mich von der erstgenannten Seite entfernt hat. Das führte dazu, dass ich im Jahr 2021 Bauchschmerzen hatte, wenn ich den Diskussionen über die Initiativen zuhörte. Das Buch entstand aus diesen Empfindungen. Es geht darum zu verstehen, dass die Landwirtschaft wesentlich ist, sie ist unsere Nahrung. Zu sehen, dass dieser Dialog völlig abgeschnitten war, war hart.

Wir haben Ihre innere Zerrissenheit als Bauernsohn, aber auch als Stadtbewohner, sehr gut gespürt. Hat das Buch geholfen, diese zu heilen?

Nein, überhaupt nicht. Aber ich habe verstanden, dass diese Zerrissenheit ein Geschenk ist, eine Ressource. Das heisst, es braucht jetzt viele Menschen in dieser Gesellschaft, die eine Brücke zwischen Stadt und Land schlagen können. Dafür glaube ich sehr an die Kunst. Es gibt heute viele Kulturproduktionen – Filme, Theater, Comedy –, die sich mit der Landwirtschaft beschäftigen. Auf Netflix gibt es zum Beispiel die Serie «Neumatt», die auf einem Zürcher Bauernhof spielt. Es ist wichtig, die Welt der Landwirtschaft im Bauch zu spüren. Manchmal sagt ein guter Film mit Emotionen viel mehr aus als eine lange Debatte mit Zahlen.

Blaise Hofmann, 46

Blaise Hofmann, 46

Blaise Hofmann ist Bauernsohn, Winzer, Journalist und Autor. Er ist in Villars-sous-Yens VD auf dem Obst- und Weingut seiner Eltern Walti und Anne-Lise aufgewachsen. Die Familie stammt ursprünglich aus Rüeggisberg BE. Hofmann ist Autor von rund 15 Romanen und Reiseberichten und hat auch schon Theaterstücke und Kinderliteratur verfasst. Sein Buch «Die Kuh im Dorf lassen» fand sowohl in der Romandie als auch in der Deutschschweiz viel Beachtung.

Warum glauben Sie, dass die Stadtmenschen und die Bauern einander nicht verstehen?

Es gibt viele Gründe. Es gibt immer weniger Bauern. Dann ist da auch ihr Charakter: introvertiert und eher wortkarg. Derzeit gibt es meiner Meinung nach aber Anzeichen, dass sich die beiden Sphären wieder näherrücken. Ich finde, die jungen Leute aus der bäuerlichen Welt kommunizieren besser. Es gibt mehr Frauen, mehr Leute, die bereits einen anderen Beruf ausgeübt haben, die aufgeschlossener sind. Die Landwirtschaftsschulen haben sich verändert, die Praktiken auch. Die Pandemie hat – wenn auch nur kurzzeitig – dazu geführt, dass viele Menschen den Direktverkauf für sich entdeckt und ihre Hände in die Erde gesteckt haben und so lernten, wie schwierig diese Aufgabe ist. Schliesslich hat der Ukraine-Krieg Dinge verändert und Fragen zur Ernährung aufgeworfen: Soll man wirklich importieren oder selber produzieren? Ich habe das Gefühl, dass sich in Sachen Dialog etwas bewegt, und das ist schön. 

Haben Familienbetriebe Ihrer Meinung nach eine Zukunft in der Schweiz?

Im Gegensatz zu den Niederlanden, Grossbritannien oder den USA haben die Betriebe in der Schweiz noch eine überschaubare Grösse. Hier gibt es keine Grossgrundbesitzer. Aber das wird passieren, wenn wir nichts ändern. Die Agrarwelt ist nicht perfekt, aber ich finde es sinnvoller, sich zu sagen: «Was gibt es zu retten?», anstatt alles pauschal zu kritisieren und noch einmal von vorne anfangen zu wollen.

Sind die Direktzahlungen ein Fluch oder ein Segen?

Die Direktzahlungen haben der Schweiz bei ihrer Einführung einen ökologischen Quantensprung gebracht. Heute allerdings sind wir Europa nicht mehr viel voraus, in einigen Bereichen sogar rückständig. Weil es Geld ist, das direkt bei den Bauern ankommt, könnten die Direktzahlungen ein wunderbarer Hebel sein, um die Landwirtschaft in die richtige Richtung zu steuern. Aber es gibt mehrere Probleme. Zunächst einmal ist es die Bürokratie: Heute brauchen Bauern einen Tag pro Woche, um Blätter auszufüllen. Es gibt kein Vertrauen, es wird bestraft und kontrolliert, anstatt gefördert. Dann wird nach Fläche bezahlt – das ist also ein Wachstumsanreiz. Die Direktzahlungen machen nicht die Bauern reicher, sondern die Zwischenhändler. Dank der Direktzahlungen können wir Milchpreise von 60 Rappen haben, was lächerlich ist. Man kann also nicht ohne Direktzahlungen auskommen, aber sie sollten dringend weiterentwickelt werden.

Sie verteidigen die nachhaltige Landwirtschaft, zeigen aber auch ihre Grenzen auf und sagen, dass sie in einem neoliberalen System nicht funktioniert. Wie kann sie denn funktionieren?

Es reicht nicht aus, Bio zu konsumieren, um richtig zu handeln. Es gibt Bio, das von sehr weit her importiert wird, Bio ohne Boden, Bio, das im Winter in Gewächshäusern angebaut wird, und Bio, das quasi industriell hergestellt wird. Und wenn ich dieses Jahr meinen Weinberg auf Bio umstellen werde, verdiene ich als Schriftsteller nicht genug Geld, um immer Bio-Lebensmittel zu kaufen. Mein Buch gibt keine Ratschläge, sondern stellt Fragen. Mir geht es vor allem um Nachhaltigkeit im allgemeinen Sinne, das heisst ökologische, aber auch wirtschaftliche und menschliche Nachhaltigkeit. Es ist sozusagen ein Hocker mit drei Beinen. Wenn man nur den ökologischen Fuß berücksichtigt, geht der Hocker kaputt. Genauso wird es vielleicht Scheidungen und Selbstmorde in Bauernfamilien geben, wenn man nur das wirtschaftliche Bein berücksichtigt.

Das Bio-Sortiment von Migros und Coop stagniert. Entspricht das der Nachfrage oder hängt das mit dem Profitdenken der Einzelhändler zusammen?

Dass es höhere Margen für Bio-Produkte gibt, wissen wir seit ein paar Jahren, und es ist ein Skandal. Trotzdem ändert sich nichts. Es ist wirklich traurig, weil sich so nur Leute mit entsprechendem Budget Bio-Produkte leisten können.

Sie schreiben, wie hoch die Standards für Nachhaltigkeit und Tierschutz in der Schweiz im Vergleich zum Ausland sind, dass viele Leute diesbezüglich aber immer noch harte Kritik üben. Warum sehen diese Personen die Errungenschaften nicht?

Ich finde es normal, dass die Landwirtschaft kritisiert wird, sie ist bei weitem nicht perfekt. Aber es gibt ein Kommunikationsproblem. Erst heute wird versucht, das zu kommunizieren, was bereits seit zehn oder fünfzehn Jahren getan wird: Es sind immer weniger Pflanzenschutzmittel zugelassen, es wird auf Bodenbedeckung, Flächen mit Biodiversität, resistente Sorten, Nützlinge zurückgegriffen. Es ist hart für die Landwirte, ständig kritisiert zu werden, obwohl sie sich jedes Jahr mehr anstrengen und um ihr wirtschaftliches Überleben kämpfen. Jedes Jahr werden ihnen Pflanzenschutzmittel entzogen, und der Beruf wird komplizierter. Gleichzeitig nimmt die Kritik weiterhin zu. Deshalb muss man versuchen, sich in die Köpfe der Landwirte und Landwirtinnen zu versetzen und das Leid und die psychische Belastung zu verstehen, die zum Teil aus dieser Kritik resultieren.

Die Bauern sollen lernen, mehr Kritik anzunehmen. Und die Menschen in der Stadt, weniger arrogant zu sein und neugieriger auf das, was auf den Bauernhöfen passiert.

Was treibt die Stadtmenschen zu so aggressiver Kritik an?

Das liegt daran, dass wir Menschen eine direkte Verbindung zur Ernährung haben. Es berührt uns in unseren Bäuchen, in unserem Inneren. Unsere fruchtbaren Böden und das, was wir auf dem Teller haben – das ist es, was uns ausmacht. Deshalb sind wir bei diesem Thema so kritisch. Ich würde mir aber wünschen, dass sich diese Kritik gegen die wahren Verantwortlichen, das Agrar- und Ernährungssystem, richtet und nicht gegen die kleinen Produzenten.

Sie schreiben in Ihrem Buch, dass diejenigen, die über die Landwirtschaft entscheiden, ihre Konzepte und Modelle ohne Rücksicht auf den Stolz, die Ehre sowie die Sensibilität der Landwirte entwickeln. Was würde sich ändern, wenn es anders wäre?

Wäre die menschliche Seite wichtiger, hätte man verstanden, dass der Bauer mit den Direktzahlungen nicht mehr derjenige ist, der «ernährt», sondern derjenige, der «pflegt»: die Landschaft, die Biodiversität und eine ländliche Lebensform. Ich bin mir nicht sicher, ob man 1996, als die Direktzahlungen eingeführt wurden, verstanden hat, dass man den Beruf völlig verändern und den Bauern auch ein Stück weit ihren Stolz und ihre Würde nehmen würde.

Sie plädieren für mehr Wohlwollen und weniger Vorurteile zwischen Produzierenden und Konsumierenden. Und auch für mehr Begegnungen.

Es gibt sie bereits. Überall auf dem Land gibt es Lehrpfade, Schulen auf dem Bauernhof, Agrotourismus. Oder die Brunchs am 1. August auf den Bauernhöfen. Das sind kleine Dinge, aber sie sind von enormer Bedeutung. Auch der Direktverkauf hat eine grosse Wirkung, wie ich selbst als Weinproduzent sehe. Ich weiss, wer meinen Wein trinken wird, und ich kann der Kundschaft direkt dessen Geschichte erzählen. Viele Junglandwirte ergreifen auch die Initiative und erklären ihre Arbeit in sozialen Netzwerken. Auch bei der Einstellung muss man sich gegenseitig bemühen. Die Bauern sollen lernen, mehr Kritik anzunehmen. Und die Menschen in der Stadt, weniger arrogant zu sein und neugieriger auf das, was auf den Bauernhöfen passiert.

Wie stellen Sie sich die Landwirtschaft im Jahr 2040 idealerweise vor?

Ökologisch, wirtschaftlich und menschlich nachhaltig. Dass es genauso viele Männer wie Frauen gibt, die stolz darauf sind, ihren Beruf für eine dankbare Bevölkerung auszuüben. Die Betriebe haben eine humane Grösse, und mit der Stadtbevölkerung findet ein Austausch statt. Und dass es noch junge Leute gibt, die diesen Beruf ausüben wollen, stimmt mich zuversichtlich.