Schwerpunkt 24. September 2024, von Hans Herrmann

Die Menschen der Bibel waren Viehzüchter und Ackerbauern

Bibel

Weinstock, Getreide, Fruchtbäume, Schafe und Ziegen: Die Bibel ist voll von landwirtschaftlichen Bezügen. Reiche Frucht wird hier als göttliches Segenszeichen gedeutet.

Kaum in einem Buch spielt die Landwirtschaft eine so herausragende Bedeutung wie in der Bibel. Kein Wunder: Die jahrtausendealten biblischen Geschichten spielen alle in agrarischen Gesellschaften des Nahen und Mittleren Ostens. Manche Sippenverbände waren damals als nomadisierende Viehzüchter unterwegs, andere Bevölkerunggruppen waren teilweise oder ganz sesshaft und betrieben Ackerbau.

Dass in einer heiligen Schrift, die in einem solchen Umfeld entstanden ist, viel von Vieh und den Früchten des Feldes die Rede ist, versteht sich von selbst. Und naheliegend ist auch, dass Ziegen, Schafe, Acker, Korn und Reben in machen Erzählungen eine symbolische Bedeutung haben, die über das Profane hinaus weit hinein ins Metaphysische reicht.

Vom Garten auf den Acker

Die Bibel beginnt bereits mit einer Erzählung, die zeigt, wie der Mensch zum Bauern wurde. Im jüdisch-christlichen Schöpfungsmythos lebt das von Gott erschaffene Menschenpaar Adam und Eva in einem herrlichen Garten mit vielen Früchten zur Nahrung. Die beiden essen aber gegen Gottes Gebot auch von der verbotenen Frucht und werden aus dem Paradies vertrieben.
Gott sprach: «Verflucht ist der Erdboden um deinetwillen, mit Mühsal wirst du dich von ihm nähren ein Leben lang. Dornen und Disteln wird er dir tragen, und das Kraut des Feldes wirst du essen. Im Schweiss deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du zum Erdboden zurückkehrst.» (Gen 3,17-19)

Diese Geschichte hat zum einen eine theologische Dimension: Sie zeigt, was geschieht, wenn der Mensch seine enge Verbindung mit Gott kappt. Er fällt aus dem behüteten Dasein hinaus in eine feindliche Lebenssphäre, in der er sich im täglichen Kampf ums Überleben bewähren muss. Das Paradies, der Garten Eden, scheint in dieser Welt nur noch hin und wieder zwischen den dornigen Disteln und stachligen Ranken des mühselig bearbeiteten Ackers auf.

Isaak aber säte in jenem Land, und er erntete im gleichen Jahr hundertfältig. So segnete ihn der Herr.
Die Bibel, Gen 26,12

Zum andern kennt die Erzählung vom Paradies aber auch eine evolutionsgeschichtliche Deutung: Der Bericht künde, sagen Kulturanthropologen, vom Übertritt der Menschheit aus dem üppig mit Tieren und Früchten bestandenen mittelsteinzeitlichen Paradies der Jäger und Sammler in das beschwerliche neusteinzeitliche Dasein als Ackerbauer. In der Landwirtschaft tätig waren denn auch die beiden Söhne der biblischen Ureltern Adam und Eva: Kain als Ackerbauer, sein jüngerer Bruder Abel als Schafzüchter.

Dient das Motiv des Ackerbaus und der Viehzucht in der biblischen Paradiesgeschichte als Metapher für die Beschwernis des menschlichen Daseins, so steht es in anderen Erzählungen der Bibel in Bezug zu Reichtum, Wohlergehen und Erwähltheit. Der Erzvater Jakob gewinnt im Dienst seines Schwiegervaters Laban für sich selbst eine riesige Schaf- und Ziegenherde, weil er sich eines züchterischen Tricks bedient – und weil Gott jene, die auf seinen Wegen wandeln, mit Fülle beschenkt. Und über den Erzvater Isaak heisst es (Gen 26,12): «Isaak aber säte in jenem Land, und er erntete im gleichen Jahr hundertfältig. So segnete ihn der Herr.»

Sieben fette und sieben magere Ähren

In den westlichen Industrienationen stehen die Menschen heute dem Agrarischen zunehmend fremd gegenüber. In biblischen Zeiten jedoch wurde es unmittelbar als Hauptfaktor für ein gesichertes Leben, Gesundheit, Wohlstand und Glück erlebt. Das zeigen auch die beiden Träume des Pharaos in der Josef-Erzählung des Buches Genesis (Gen 41,1–7): Der ägyptische Grosskönig sieht im Schlaf zuerst sieben fette und sieben magere Kühe, in einem zweiten Traum dann sieben schwere und schöne Ähren, die von sieben mageren Ähren verschlungen werden. Der Hebräer Josef deutet die Träume und sieht die sprichwörtlichen sieben fetten und sieben mageren Jahre voraus. Jahre der Not, die sich nur überstehen lassen, wenn der Pharao Vorräte aus dem Überfluss der fetten Erntejahre anlegen lässt.

Früh wollen wir uns aufmachen zu den Weinbergen, wollen sehen, ob der Weinstock getrieben hat, die Knospen aufgesprungen, die Granatbäume erblüht sind.
Die Bibel, Hl 6,11

Die Autoren der Bibel verstanden es bei allem ökonomischen Realismus aber auch, die landwirtschaftliche Lebenswelt in ihrer poetischen Qualität zu würdigen. Zum Beispiel im Hohelied. In diesem Buch geht es um den erotisch gefärbten Dialog eines mythischen Liebespaares. «Komm, mein Geliebter», spricht die junge Frau, «lass uns hinausgehen aufs Feld, bei den Hennasträuchern die Nacht verbringen. Früh wollen wir uns aufmachen zu den Weinbergen, wollen sehen, ob der Weinstock getrieben hat, die Knospen aufgesprungen, die Granatbäume erblüht sind.» Hier wird die landwirtschaftliche Wein- und Fruchtplantage zum lyrisch verklärten Gartenparadies, in dem sich die Liebenden schwärmerisch ergehen.

Romantik auf dem Erntefeld

Mit einer anderen grossen biblischen Liebesgeschichte verbunden ist die Geschichte von Rut, der jung verwitweten Moabiterin, die mit ihrer ebenfalls verwitweten Schwiegermutter ins Land Juda zieht. «Und sie kamen nach Bethlehem, als die Gerstenernte begann», so endet das erste Kapitel des Buches Rut. Im zweiten Kapitel entsteht vor den Augen der Leserschaft das Bild einer lebhaften Ernteszene mit vielen Schnittern, reichen Feldern, einem Schnitter-Obmann und dem Gutsbesitzer, der auftaucht, um bei der Ernte, dem Höhepunkt des landwirtschaftlichen Jahres, dabei zu sein.

Hinter den Schnittern sind auch Frauen anzutreffen, die vom Recht der Nachlese Gebrauch machen. Unter ihnen befindet sich Rut, welche die Aufmerksamkeit des Landbesitzers Boas auf sich zieht. Im Lauf der Erzählung wird sie seine Frau – und schliesslich zur Ahnmutter des Königshauses David und damit auch von Josef, dem Vater Jesu.

Mit dem Auftreten von Jesus beginnt das Neue Testament der Bibel. In den vier Evangelien, die vom Leben, den Lehren und den Wundern des Wanderpredigers aus Nazaret künden, erhält das Sprechen in landwirtschaftlichen Bildern und Begriffen definitiv eine religiös-symbolische Dimension.

Jesus drückt sich oft in Bildern und Gleichnissen aus. Hierzu bedient er sich eines Vokabulars, das aus der Landwirtschaft stammt und von der galiläischen Bevölkerung aus Bauern und Fischern, der er selber angehörte, alltäglich vertraut war. «Vom Feigenbaum ohne Früchte», «Vom reichen Kornbauern», «Vom Schatz im Acker», «Vom Senfkorn», «Von den bösen Weingärtnern», «Vom Unkraut unter dem Weizen», «Von der selbstwachsenden Saat»: So heissen einige der Gleichnisse, anhand derer Jesus erklärt, worum es beim Reich Gottes geht und wie es beschaffen ist.

Der Sämann und die Kunst

Am bekanntesten ist das Gleichnis vom Sämann, dessen Saat auf vier verschiedene Böden fällt: auf die Strasse, auf mageren Grund, zwischen Dornengestrüpp und auf fruchtbaren Boden. Die Saat ist das Wort Gottes, die nur aufgehen kann, wenn sie auf guten Boden fällt. Dieses Gleichnis ist im Lauf der Jahrhunderte auf vielen Kirchenfenstern und zahlreichen anderen Bildern dargestellt worden. Besonders bekannt sind die Darstellungen in Öl aus der Hand von Vincent van Gogh (1853–1890). Das Motiv des Sämanns begleitete den tiefreligiösen Künstler ein Leben lang.

Nicht zuletzt sind aber auch die beiden Nahrungselemente des christlichen Abendmahls in ihrer symbolischen Schlichtheit mit dem Urgrund der mediterranen Landwirtschaft eng verbunden: Brot und Wein, erzeugt aus Getreide und den Früchten des Rebstocks.

Gerade die Kornähre ist so sehr zu einem christlichen Symbol geworden, dass sie oft auch als Motiv auf Grabsteinen zu sehen ist: sinnbildlich für den Menschen, der, von Gott gesät, im Lauf seines Lebens reifen und Frucht tragen soll. Und als Erinnerung daran, dass es Gott selbst ist, der zuletzt Ernte hält.