Schwerpunkt 25. September 2024, von Christian Kaiser

Das Korn als Kern des Kreislaufs

Saatgut

Erntezeit ist Samensammelzeit. Das Samenkorn ist der Ursprung allen Lebens, Zeichen der Vermehrung und Fülle. Ein Augenschein bei Samensammlern und -händlern.

Ralf Stucki ist sozusagen ein Hipster-Bauer, ein Querschläger in der Bauernlandschaft mit Youtube-Kanal. Seine Felder sehen ganz anders aus als jene der Kollegen ringsum: Rund um den Hof in Oberwil reiht sich ein wildes Durcheinander an Gemüsesorten und Nutzpflanzen aneinander, angelegt in Streifen von wenigen Metern Breite. Auch Exotischeres baut er hier im Zürcher Weinland an, Soja und Edamame zum Beispiel. 

Der Trend-Food wächst neben uralten Getreidesorten, die die wenigsten kennen: Huron-Urweizen, Waldstaudenroggen, Emmer. Aus dem Leindotter, der auf einem Feld zusammen mit Linsen wächst, fabriziert er selbst hochwertiges Öl. «Es ist das vitaminreichste überhaupt», sagt Stucki stolz.

Ernten für Dachgärten 

Sein Erfolgsrezept ist nicht Spezialisierung, sondern Vielfalt. 180 verschiedene Produkte vertreibt die fünfköpfige Stucki-Familie unter dem Label «Direkt vom Puur» – via Gemüsekisten-Abo oder an Ständen auf Wochenmärkten in Winterthur. Und wer das ganze Jahr über Gemüse, Beeren und Obst im Angebot haben will, muss auch Vielfalt säen und pflanzen. 

Und die Samen für die nächste Ernte zur Seite legen. Für Bohnen gewinnt Stucki das Saatgut zur Aussaat selbst. Blumenblütensamen baut er hingegen im Auftrag von Samenhändlern an. Unter einem Vordach liegen auf Planen grosse Haufen mit Büscheln trockener Blumen-Stängel, die er vor ein paar Tagen geerntet hat. Gerade noch rechtzeitig, bevor der Regenguss kam. 

Sie liegen bereit, um ausgeschüttelt zu werden, damit sie ihren Schatz freigeben: winzige Sämlinge. «Die Samen auf den Blachen klopfen wir dann zweimal durch's Sieb.» Auf einer Fingerbeere präsentiert Stucki ein feines, bernsteinfarbenes Körnchen: Venusspiegelsämchen. Dann zeigt er auf einen anderen Haufen mit trockenen Blumenstauden: «Die Glockenblumen da machen hingegen lange Schiffchen. Drum lassen sie sich mit unterschiedlichen Sieben gut sortieren.»

Im nächsten Jahr werden aus beiden Samensorten auf Flachdächern zarte Blümchen mit blauen Blüten wachsen. Die Sämchen kommen zusammen mit Dutzenden anderer Wildblumen in eine Dachgartenmischung. «Der Stundenlohn für diese Arbeit ist ok», sagt Stucki. Ein Kilo Venusspiegelsämchen hat ungefähr so viel Wert wie fünf Kilo Silber, und mit 1000 Gramm liessen sich 6000 Quadratmeter mit dem blühenden Zeichen der Liebesgöttin verschönern. 

Das Timing ist ein Pokern 

Ennet dem Feldweg warten auch noch Thymian und Majoran auf die Samenernte. «Den richtigen Zeitpunkt zu erwischen, erfordert viel Fingerspitzengefühl.» Man müsse genau wissen, wann der Samen reif sei, und die Pflanzen noch rechtzeitig schneiden, bevor die Samenkapseln aufspringen und ihre Pracht abwerfen. «Sonst sind alle Sämchen verloren.» Man müsse sie drum grün zur Seite legen und auf der Matte trocknen lassen. «Es ist ein Pokerspiel, ein paar Stunden können entscheiden, ein Landregen kann den Prozess beschleunigen und die Ernte platzen lassen», sagt Stucki. 

Wir brauchen das Saatgut, das die Welt in die richtige Richtung führt.
Amadeus Zschunke, Geschäftsführer Sativa Rheinau

Auch bei der Düngung setzt Stucki auf Vielfalt. Jahrelang hat er am richtigen Rezept für seinen «Hipster-Kompost» getüftelt. Zusammengekommen ist eine Mischung aus Holzschnitzeln, Steinmehl, Melasse, Pflanzenkohle, Gülle und effektiven Mikroorganismen. Wie dieser gehaltvolle Brei zusammengemischt wird, ist auf Stuckis Youtube-Kanal zu sehen. Der Schlüssel zu einer reichen Ernte liege in einem fruchtbaren, immergrünen Boden. Regenerative Landwirtschaft nennt sich das Prinzip. 

«Es kommt natürlich drauf an, wo der Samen hinfällt!», sagt Stucki. Das werde auch im Zuge der Klimaerwärmung immer wichtiger. «Die Vielfalt an unterschiedlich wurzelndem Bewuchs hält den Boden feucht.» Auf die abgeernteten Getreideäcker hat Stucki drum vor einem Monat ein Klee-Grasgemisch gesät, das bildet die Untersaat für die nächste Getreideaussaat. Jetzt liegt vor uns ein grünes Feld voller Milane und anderer Raubvögel, während auf den umgepflügten Äckern der Nachbarn kein Gräslein wächst. 

Vielfalt statt Einheitsbrei 

Auch die Sativa in Rheinau im Zürcher Weinland setzt auf Vielfalt und Saatgut ist ihre Handelsware. Der Katalog ist 185 Seiten dick, das Sortiment umfasst über 700 Sorten, allein an Tomaten stehen 52 verschiedene zur Auswahl. Was alles in heimischen Gärten wachsen kann, zeigt der Bio-Saatgutproduzent jeweils Anfang September an einem grossen Ausstellungsmarkt mit dem Namen «1001 Gemüse». «Wir wollen die Leute bei der Freude an Farben und Formen abholen und die Neugier auf unbekannte Sorten wecken», erklärt Geschäftsführer Amadeus Zschunke. 

Von Beschwernis und Segen des Ackerwerks

In der Bibel ist viel von Landwirtschaft die Rede, denn die Erzählungen spielen alle in Agrargesellschaften, wie sie im Nahen Osten vor 2000 bis 4000 Jahren anzutreffen waren. Am Anfang des Alten Testaments, in der Geschichte von der Vertreibung der ersten Menschen aus dem Paradies, wird der Ackerbau zum Sinnbild für die Beschwernis des menschlichen Daseins. In anderen biblischen Erzählungen steht er in Bezug zu Reichtum und göttlichem Segen. Über den Erzvater Isaak heisst es: «Isaak aber säte in jenem Land, und er erntete im gleichen Jahr hundertfältig. So segnete ihn der Herr» (Gen 26,12). Geradezu poetisch mutet die Szene an, in der die Moabiterin Ruth ins Land Juda kommt. Es ist die Zeit der Gerstenernte, ein grosses Sicheln und Garbenbinden ist im Gang. Die jung verwitwete Ruth hält Nachlese und wird vom Landbesitzer Boas bemerkt. Sie wird seine Frau – und damit die Ahnmutter des Königshauses David, von dem auch Jesus abstammt. heb 

Vor der Halle neben dem schicken neuen Verwaltungsgebäude der Sativa hat ein Bio-Bauer aus der Region grosse Kisten voller Kleesamen angeliefert. Sie werden gewogen, anschliessend wird ihr Inhalt gereinigt und sortiert. Im Moment sind die Sortiermaschinen aber noch mit zentnerweise rötlich-braunen Randensamen beschäftigt. Wer glaubt, dass «Rote Beete», wie die Randen in Deutschland heissen, rot seien, hat noch nie die alten Sorten aufgeschnitten: gelbes, weisses, goldenes oder rot-weiss geringeltes Fruchtfleisch erscheint. 

Sativa hat sie alle im Sortiment und gibt die Saatgutproduktion in Auftrag. Ende August liefern täglich Bio-Vertragsbauern ihre Samenernte an, die Hauptsaison ist angelaufen. Proben der Randen-Samen-Lieferungen kommen ins Labor und werden dort auf ihre Keimfähigkeit getestet. In genau eingestellten Kühlschränken stehen dort reihenweise Glassschalen, mit blauem Filzstift beschriftet: Auch Rucola, Kohlsorten und Tagetesblumen treiben dort feine Keime. 

Aller Anfang liegt im Samen 

Ist der Anteil der keimfähigen Samen zu klein, werden die Lieferungen noch einmal gereinigt und sortiert. 

Grundsätzlich gilt: Je schwerer die Körner sind und je näher sie an die durchschnittliche Grösse heranreichen, desto keimfähiger sind sie und entsprechend wertvoller. Deshalb werden kleine und ganz grosse Samen aussortiert und kommen in die Biogasanlage. 

Auf einem Hektar Randen lassen sich 300 bis 500 Kilo Samen ernten. Und 10 bis 13 Kilo reichen, um einen Hektar Randen anzusäen. Rein rechnerisch könnte man also den Ertrag Jahr für Jahr verfünfzigfachen. Das ist das Wundersame am Samen; er ist das Mittel zur Vermehrung. Und nicht erst seit Kolumbus losgeschickt wurde, um neue Kontinente und ihre Nutzpflanzen zu erforschen, sind Saatgutsamen auch eine wertvolle Handelsware. Ein Kilo des sehr feinen Samens der Stevia-Pflanze etwa, die als Süssstoff gefragt ist, kostet mehr als 30'000 Franken das Kilo.

An einem Marktstand von «1001 Gemüse» in Rheinau können die Besucherinnen und Besucher Winterweisserbsen in die Erde setzen, versehen mit Wünschen auf Zettelchen. «Ein Same ist ein Vorschlag an das Schicksal. Ein Vorschlag für eine neue Welt», heisst es in der Anleitung dazu. Jedes Samenkorn sei ein Schatz, in dem die Information für Wurzeln, Blätter, Zweige, Blüten, Erbsen, mehr Pflanzen, ja für ganze Ökosysteme stecke. «Was für eine Welt würdest du gern wachsen lassen?» fragt das Erbsenkorn.

«Das Saatgut ist matchentscheidend», sagt Amadeus Zschunke. «Der Samen ist der Anfangspunkt und zugleich die Achillesferse aller landwirtschaftlicher Produktion.» Ob Stärkeproduktion für die Industrie oder Tierernährung – alles starte mit dem Samenkorn. Auch unser Essen, das gesund sein solle, vielseitig und schmackhaft.

«Wir ernten, was wir säen, darum brauchen wir Saatgut, das die Welt in die richtige Richtung entwickelt. Wir leben ja in verschiedener Beziehung völlig über unsere Verhältnisse», sagt Sativa-Chef Zschunke. «Wir müssen also Sorten züchten, die uns dabei helfen, besser im Einklang mit der Schöpfung zu leben.» Das gelinge etwa mit Sorten, die genügsamer seien, mit weniger Input auskämen. «Mit weniger Dünger zum Beispiel, denn Dünger ist Energie.» 

Züchten für die Schöpfung 

Oder mit weniger Pestiziden, die das Trinkwasser vergiften. Oder Sorten, die mit den veränderten Klimaverhältnissen besser zurechtkämen. Daran arbeite die Sativa mit ihren biodynamischen Pflanzenzüchtungen seit 26 Jahren. «Als Gesellschaft täten wir gut daran, wenn wir uns des Werts der Vielfalt bewusst wären und sie förderten, statt sie mit Gentechnik und intensiven Monokulturen zu reduzieren.» 

Die Sativa stellt sich auch gegen die Patentierung von Saatgut, wie sie die grossen, herkömmlichen Saatgutproduzenten und Gentechfirmen betreiben. «Die Vermehrung und Selbstnutzung sollte ein Grundrecht der Landwirte sein.» Deshalb erlaubt die Sativa den Kunden, das Saatgut für den Eigengebrauch selbst nachzuziehen. 

Jesus verkündete in der Sprache der Bauern

Im Neuen Testament gewinnt das Sprechen in landwirtschaftlichen Bildern – mehr noch als im Alten Testament – eine geistig-symbolische Bedeutung. Der Wanderprediger und Wundertäter Jesus von Nazaret drückte sich oft in Bildern und Gleichnis-sen aus. Hierzu bediente er sich eines Vokabulars, das aus der Landwirtschaft stammt und der galiläischen Bevölkerung aus Bauern und Fischern, der er selbst angehörte, vertraut war. «Vom reichen Kornbauern», «Vom Schatz im Acker», «Von den bösen Weingärtnern», «Vom Unkraut un-ter dem Weizen», «Von der selbstwachsenden Saat»: So heissen einige der Gleichnisse, mit denen Jesus das Reich Gottes erklärte. Am bekanntesten ist das Gleichnis vom Sämann, dessen Saat auf vier verschiedene Böden fällt: auf die Strasse, auf mageren Grund, zwischen Dornengestrüpp und auf fruchtbaren Boden. Die Saat ist das Wort Gottes, die nur aufgehen kann, wenn sie auf guten Boden fällt. heb 

Die Heilkraft steckt im Korn 

Hobbygärtnerinnen und -gärtner tun das schon seit eh und je. Barbara Keusch ist eine der Freiwilligen im Gartenteam des alten Kapuzinerklosters in Dornach, sie arbeitet ein- bis zweimal pro Woche im Heilkräutergarten. Gerade erntet sie auch Samen. Mohn, Artemisia, Mönchspfeffer, Lein. Die Vielfalt an Formen, Grössen und Farben der Samen fasziniert sie immer wieder. «Und das Samensammeln macht Spass», sagt sie. 

Trotz Hitze zeigt das Heilkräuterteam vollen Einsatz, richtet die Beete her für das Herbstprogramm: «Holy Wow!» heisst die Dornacher Klostergartenschau. Gezeigt werden Klostergeschichte, Gartenbau und zeitgenössische Kunst. Im Mittelpunkt steht der Klostergarten mit Wildkräutern, Blütenzauber und Kräuterapotheke: «Wir wollen seine klösterliche Vergangenheit ergründen, seine Gegenwart geniessen und seine Zukunft säen», heisst es in der Ausschreibung zu «Holy Wow!». Jetzt wird hier im Heilkräutergarten geschnitten, gejätet, neuer Humus untergehackt.

Die Gartenparzelle gleich nebenan heisst «Little Wilderness – kleine Wildnis». In Dornach mag man's zwar, wenn die Natur ihre wilde Kraft zeigt, aber eben auch nur bis zu einem gewissen Grad. Die prächtig gedeihenden Nachtkerzen drohen alles zu überwuchern, die Minzen und der Dost sind am Verblühen, verschiedene Salbeiarten präsentieren schon trockene Samenstengel. 

Wenn man bedenkt, dass aus diesem Sämchen so eine grosse Pflanze mit vielen Blüten entsteht, ja, da werde ich ehrfürchtig.
Barbara Keusch, Freiwillige im Gartenteam des alten Kapuzinerklosters in Dornach

Bei Barbara Keusch zu Hause wächst gerade eine ganze Sammlung an fein beschrifteten Blechdöschen, Papierbriefchen und Schächtelchen voller kleiner Körner: Peperoncini, Wilde Möhren, Blumen in unterschiedlichsten Färbungen. Auf ihre Lieblingssamen angesprochen präsentiert sie winzige gelbe Nüsschen, die man für Goldnuggets halten könnte: Kapuzinerkressesämchen, «die sehen ein bisschen aus wie kleine Hirnis», sagt sie und strahlt. 

Und dann präsentiert sie ein dunkles Korn, das kaum grösser ist als ein Quadrat auf dem Millimeterpapier und unter der Lupe an einen vorgeschnittenen Schokogugelhopf erinnert: den Samen der Wilden Malve. «Wenn man bedenkt, dass aus diesem Sämchen so eine grosse Pflanze mit vielen Blüten entsteht, ja, da werde ich ehrfürchtig», sagt sie. 

«Die Samen der wilden Malve erinnern auch an Käselaibe, deshalb wird die Pflanze in der Umgangssprache auch Chäslichrut genannt.» Und in jedem der gezeigten Körnchen verberge sich auch Heilkraft: So dienen die Malve und die Kapuzinerkresse als Heilmittel gegen Husten und Bronchitis und wurden darum schon seit Jahrhunderten in Klostergärten vermehrt.