Zu Erntedank: Kunstaktionen nehmen das Samenkorn aufs Korn

Kunst

Wenn Samen statt Juwelen in Tresoren liegen: Zwei Kunstprojekte stellen spielerisch Fragen zum Umgang mit der Schöpfung und dem Wert der Natur. Und legen den Fokus aufs Saatkorn. 

Hinter den hohen, altehrwürdigen Mauern neben den Geleisen beim Bahnhof Dornach verbirgt sich ein wahres Bijou: Der Klostergarten des ehemaligen Kapuzinerklosters ist eine grüne Oase. Eine Stiftung hat das Kloster übernommen und den Garten der Mönche fürs Publikum geöffnet. Und lädt jetzt unter dem Titel «Holy Wow!» dazu ein, den Klostergarten neu zu entdecken. 

Das Herbstprogramm bietet ein buntes Potpourri aus Klostergeschichte, ökologischer Information rund um den Garten sowie Ausstellungen, Performances und Lesungen. 30 Beteiligte aus Kunst, Design, Naturkunde, Poesie und Theologie mischen mit. Man kann hier aber auch einfach verweilen, in der Baumkathedrale den Vögeln zuhören, an den Kräutern in der «Heilpflanzenapotheke» schnuppern oder den Äpfeln beim Fallen zuschauen.

Samen im Austausch gegen Geschichten

Wer den Kiesweg an der Streuobstwiese vorbei ganz nach hinten geht, steht vor dem alten Holzgartenschopf der Mönche. Der ist aktuell zu einer kleinen Filiale der «Schweizerischen Samenbörse» umfunktioniert: Ein schwarzer Metallkasten links vom Eingang trägt die Aufschrift «Samen-Tauschbox». Darunter hängt ein Briefkasten. Im Goldrahmen daneben findet sich die schriftliche Aufforderung an die Garten-Besucherinnen und -Besucher, hier doch bitte Geschichten rund um Saatgut, Samen oder Pflanzen einzuwerfen. 

Hinter der Scheibe hängen im Innern Bündel mit getrockneten Heilkräutern, die das Samenbörse-Team im letzten Herbst im Klostergarten gesammelt hat. Ist das «Saatgut-Atelier» besetzt, erhalten die Besucherinnen und Besucher hier Infos zu den Kräutern sowie Samen und Tipps, wie man sie selber anbauen kann. Und jemand vom Samen-Börse-Team hält mit einer alten Schreibmaschine fest, was die Menschen rund um ihre Samen- und Pflanzenerfahrungen zu erzählen haben. 

Bankgeheimnisse der besonderen Art

Hinter dieser Tauschbörse für Saatgut und Geschichten steckt ein Kunstprojekt: Der Hauptsitz der «Schweizerischen Samenbörse» steht mitten in Basel, an nobler Adresse, in den ehemaligen Tresorräumen der Schweizerischen Volksbank. In den goldenen Schliessfächern werden dort nicht mehr Goldvreneli, Schmuckstücke und Wertpapiere sicher aufbewahrt, sondern Sämlinge und die Erzählungen, wie sie hierherkamen. 

Etwa jene der älteren Dame aus dem Kanton Schwyz, die Blumensamen von 30 Arten aus ihrem Garten brachte, die alle gelb blühten. Oder jene des Mannes, der fünf Samen des Riesenfenchels übergab – mit der Warnung, dass sie bis zu drei Metern hoch würden; in gewissen Regionen gebe es unter jungen Männern zudem den Brauch, sich mit seinen Stengeln gegenseitig zu verprügeln. 

Tresore voll Geschichtenschätze

Etwa jene der älteren Dame aus dem Kanton Schwyz, die Blumensamen von 30 gelb blühenden Arten aus ihrem Garten brachte. Oder jene des Mannes, der fünf Samen des Riesenfenchels vorbeibrachte mit der Warnung, dass sie bis zu drei Metern hoch werden könnten, und dass es in gewissen Regionen unter jungen Männern einen Brauch gebe, sich mit seinen Stengeln gegenseitig zu verprügeln. 

Oder die Geschichte der Frau, die in einem Köfferchen säuberlich beschriftete Couverts in die ehemalige Volksbank trug, darin Samen, die sie als Kind von ihrer Grossmutter erhalten hatte. «Es war gleich klar, welch grossen Wert die Samen für sie hatten», sagt Julien Rondez, einer der Gründer der Samenbörse. «Unsere Absicht ist, die Bedeutung der Samen für die Gesellschaft zu unterstreichen», ergänzt seine Kollegin Anna Schaffter. 

Die Kronjuwelen im Banksafe

Die «Angestellten» der Samenbörse ziehen die Bankenästhetik im grüngoldenen Raum tatsächlich durch, ja zelebrieren sie regelrecht. Sie tragen seriöse Business-Kluft, schliessen die Fächer zu zweit mit goldigen Schlüsseln auf – und präsentieren Besuchern die Sämchen mit Handschuhen und auf silbernen Löffeln. Die Botschaft liegt auf der Hand: Samen sind wertvolles Kapital.

Ein dickes Buch mit Ledereinband enthält das Verzeichnis der hier zum Tausch eingelagerten Pflanzensamen und ihrer Herkunft; Wer sie gebracht hat, wo sie gewachsen sind, wie sie gesammelt wurden. Der Bank-Safe wird zum Ort des kollektiven Gedächtnisses, das an die gemeinsame Lebensgrundlage der Menschheit erinnert; ohne Samen keine Ernte, ohne Aussaat keine Nahrung, ohne Ernte keine Existenz. 

Samenvermehrung versus Zinseszins

Das junge Gründerteam argumentiert philosophisch. «Wir wollen an den Überschuss, den Reichtum, die Fülle erinnern, die uns die Natur beschert», sagt Anna, «und zum Teilen dessen animieren, wovon man mehr als genug hat». Julien: «Alles kommt vom Samen; ohne sie können wir nicht bauern, nicht bauen, nicht leben; und von Geld kann man sich nicht ernähren – also sind Samen viel mehr wert als Geld.»

Die «Schweizerische Samenbörse» hinterfragt unseren Umgang mit und unsere Bewertung der Natur, stellt aber auch die kapitalistischen Regeln der Gewinnmaximierung oder das Privateigentum an natürlichen Ressourcen zur Diskussion. Zeigt aber auch spielerisch einen Gegenentwurf auf: Teilen der Fülle statt Horten der Überschüsse, kostenloser Tausch statt gewinnmaximierender Handel, Gratis-Information statt Bankgeheimnis. 

Sanfte Revolution in Ton ...

Im Tresorraum steht auch ein Mikroskop, und wer dort Samen darunterlegt, entdeckt ganze Planetensysteme neu. «Wir laden die Menschen dazu ein, in die Samen-Welt einzutauchen und darin Zeit zu verbringen», sagt Anna. Die Samenbörsianerinnen und -börsianer bieten Rat zu Saat und Tat für alle, die selber Erfahrungen mit dem Säen von Samen sammeln wollen. Julien: «Schon 10 Quadratzentimeter reichen zum Pflanzenziehen.» 

Zum rebellischeren Repertoire der Samenbörsianer gehören auch Samenbombenbauworkshops; dort entstehen Tonkügelchen voller Samen von schnell- und grosswachsenden Arten zur Stadtbegrünung.

... und lohnende Investition

Die Beschäftigung mit den Samen sei auf jeden Fall eine lohnende Investition, so Julien: «Wenn man anfängt, das Saatgut wertzuschätzen, wächst es in einem selber.» Auch die Institution der Samenbörse sei von Jahr zu Jahr gewachsen, Filialen wie jene in Dornach und Einladungen zu Kunstprojekten und Saatgut-Märkten kamen hinzu. «Es kann auch sein, dass wir bald sterben und kompostiert werden.» Und dann wachse auf diesem Dünger vielleicht etwas ganz Neues. 

Von der Natur hat Julien einiges übers Leben gelernt, zum Beispiel von seiner Lieblingspflanze, der Eselsdistel. Mit ihren Dornen ist sie etwas widerspenstig und kann sich abgrenzen, sie wächst auch am Wegrand und in Strassenrabatten, ihre Blüten sind essbar und eine Pflanze kann ein ganzes Litergefäss voll Samen produzieren. «Ich bin ihr jeden Tag auf dem Schulweg begegnet, wir haben uns angefreundet, jetzt vermehre ich sie.»

Kunst und Garten – eine ästhetische Allianz: drei Kunstprojekte

Der Klostergarten des Klosters Dornach lädt unter dem Titel «Holy Wow!» zum sinnlichen Entdecken ein: Poesie auf der Gartenbank, Fantasiekäfermalerei, Kompost-Performances – Wissenswertes zur klösterlichen Gartentradition vermischt sich mit zeitgenössischer Kunst. Garten und Ausstellungen sind bis 31. November täglich von 8.00 bis 22.00 Uhr geöffnet (freier Eintritt). Am Samstag, 19. Oktober, steigt das grosse Herbstfest mit umfangreichem Programm „Holy Wow! Den Klostergarten neu entdecken“.

Die Schweizerische Samenbörse in Basel kann auf Voranmeldung besucht werden. Der Samenkatalog bietet im Moment über 200 Sorten. Samentauschboxen stehen an verschiedenen Standorten. Die Schweizerische Samenbörse wird auch immer wieder einmal zu anderen Kunstprojekten eingeladen. Aktuell ist sie nicht nur im Klostergarten Dornach präsent, sondern auch im Kunst(Zeug)Haus Rapperswil-Jona. 

Dort sind die Samenbörsianerinnen und -börsianer in der sehenswerten Ausstellung «Mein Garten» (bis 6. April 2025) vertreten – mit einem Rasenmäherstandplatz für all jene, die in ihrem Garten versuchsweise mehr Wildnis eine Chance geben wollen. «Wer einen Garten anlegt, glaubt an die Zukunft», schreiben die Ausstellungsmacher in Rapperswil im Katalog. Das Gleiche gilt natürlich für all jene, die einen Samen pflanzen.