«Mir wurde bewusst, dass meine Fragen urmenschlich sind»

Spiritualität

«Glaube ich eigentlich? Und wenn ja, woran?» Michelle de Oliveira stellte sich diesen Fragen und sprach dafür mit vierzehn Personen – vom Atheisten bis zur buddhistischen Nonne.

Sie haben mit vierzehn Personen über Glaube, Religion und Spiritualität intensive Gespräche geführt. Warum?

Der Buchtitel verrät es: Mich trieben schon länger die Fragen um, ob und was ich glaube. Ich wuchs – zwar sehr liberal – katholisch auf, bin aber aus der Kirche ausgetreten. Trotzdem wollte ich mich irgendwann enger mit dem Thema befassen, weil ich merkte, dass mich das Thema einfach nicht loslässt. Als Journalistin war es naheliegend, das irgendwie aufzuarbeiten. Und ich hatte den Eindruck, dass ich nicht alleine bin mit diesen Fragen.

Zur Person

Zur Person

Michelle de Oliveira (38) ist freie Journalistin und Autorin. Die zweifache Mutter wuchs in Zug auf und lebt heute mit ihrer Familie in Portugal. Ihr Buch «Ich glaube, mir fehlt der Glaube. 14 Gespräche über Religion, Glaube und Spiritualität» ist kürzlich im Pano Verlag erschienen.

Wer von Ihren Gesprächspartnerinnen und -partnern hat Sie am meisten beeindruckt und warum?

Jedes Gespräch liess mich nachdenklich und angeregt zurück. Ich habe unglaublich viel daraus gelernt, auch wenn ich nicht mit allen einig war. Das Gespräch mit Kathrin Altwegg ist mir aber sehr stark in Erinnerung geblieben. Dass sie als sehr wissenschaftliche Person sagt: «Ich glaube, da ist etwas, das göttliche Energie hat», hat mich beeindruckt. Auch dass wir Menschen, wie sie erklärte, aus Sternenstaub gemacht sind und sich diese Atome immer wieder neu zusammensetzen.

Was hat Sie bei der Arbeit an Ihrem Buch besonders überrascht?

Dass mir bewusst wurde, dass meine Fragen «Woher kommen wir?», «Wohin gehen wir?», «Warum sind wir hier?» urmenschlich sind, ich mich in diese Reihe eingliedere und am Schluss wohl niemand eine endgültige Antwort hat. Weltweit kommen wohl viele Menschen an diesen Punkt. Ich bin also nicht alleine auf meiner Suche. Das war mir schlicht nicht bewusst und sorgte für ein schönes Aha-Erlebnis.

Inwiefern spielten Berührungsängste, die viele Leute mit den Themen Spiritualität, Religion und Glaube haben, eine Rolle bei Ihrem Projekt? 

Primär bei mir selber. Ich trug das Thema schon länger mit mir herum. Ich traute mich aber nicht, es anzupacken, weil ich mich nicht öffentlich damit positionieren wollte. Ich dachte, dass der Glaube etwas ein bisschen Naives ist, etwas für die, die es nicht besser wissen. Gerade als Journalistin muss ich immer nahe an den Fakten sein. Diese Berührungsängste musste ich überwinden, auch jetzt noch, wo das Buch erschienen ist. Es ist ein Schritt aus meiner Komfortzone hinaus. Aber ich habe schon von vielen Leuten, von denen ich es nicht gedacht hätte, gehört, dass solche Fragen sie auch beschäftigen. Das Buch hat also eine Daseinsberechtigung.

Sich mit anderen Sichtweisen zu konfrontieren, kann herausfordernd sein, gerade bei einem so intimen Thema wie dem persönlichen Glauben. Kamen Sie bei den Interviews auch an die Grenzen des für Sie Erträglichen?

Ich bin aus der katholischen Kirche ausgetreten, weil ich mit vielem, was sie vertritt, grosse Mühe hatte. Ein besonders spannendes Gespräch fand ich darum das mit Martin Iten. Ich bin mit ihm befreundet, wir waren zusammen in der Lehre. Er ist überzeugter Katholik, und wir sind uns in vielem nicht einig. Und trotzdem hat mich das Gespräch tief berührt, nicht zuletzt wegen der gegenseitigen Ehrlichkeit. Insgesamt fand ich die Gespräche so bereichernd, weil die Leute mir gegenüber sehr offen waren. Ich musste aber oft reflektieren, mich wieder sortieren und mich fragen, wie es nun für mich ist. Aber es gab nichts, was mich richtig schockiert hat.

Es ist ok, wenn ich meinen Glauben nicht eindeutig zuordnen kann. Es ist eine Reise, die ich jetzt antreten kann.
Michelle de Oliveira

Gab es Momente der Befreiung?

Ja, es gab einen Moment. Das war die Schlussfolgerung dieses Projekts, dass ich jetzt sagen kann: «Ja, ich glaube.» Dass ich mich bewusst entschieden habe, ich möchte diese Transzendenz in mein Leben integrieren, aber ohne dass ich sie jetzt gerade festmachen muss. Ich bin nicht Atheistin, aber es ist ok, wenn ich meinen Glauben nicht eindeutig zuordnen kann. Es ist eine Reise, die ich jetzt antreten kann. Das ist ein schönes Gefühl.

Sie beobachten derzeit einen Boom bei Spiritualität und Esoterik. Was sind die Gründe für diesen?

Tatsächlich hat mich auch dieser Trend zu meinem Projekt angeregt. Ich selber mache Yoga, besuche Meditations-Retreats und räuchere meine Wohnung aus – Ich bin sehr empfänglich für solche Sachen. Die Religion gab über Jahrtausende einen Rahmen vor. Dieser bricht nun weg. Dadurch fehlen gewisse Rituale und Antworten, die die Leute aber trotzdem suchen. Was macht man etwa, wenn jemand stirbt und man keiner Religion zugehörig ist? Dieses Vakuum schafft Raum, das Spirituelle und Rituelle anderswo zu suchen. Etwa beim Yoga, das moderner daherkommt und zugänglicher ist. Der Ursprung ist derselbe: Es hat mit einer tieferen Anbindung, einem Zugehörigkeitsgefühl zu tun. Dass die Kirche alles vorgab, gewährte eine gewisse Sicherheit. Dass nun alles sehr offen ist, macht es auch sehr schwer. Woran hält man sich denn nun?

Sie haben Ihr Buch geschrieben, weil Sie nicht sicher waren, ob Sie glauben oder nicht – und wenn ja, was Sie glauben. Im Nachwort schreiben Sie, dass Sie Ihre Fragen während der Arbeit am Buch nicht eindeutig beantworten konnten. Was hat es Ihnen dennoch gebracht, sich auf dieses Abenteuer einzulassen?

Dass ich nun, wie bereits erwähnt, sagen kann: «Ja, ich glaube.» Aber auch, dass ich sehr viel gelernt habe, offener bin, gerade anderen Glaubensrichtungen gegenüber, dass ich gemerkt habe, dass der Dialog zu diesen Themen sehr wichtig ist und dass der Glaube vielseitiger ist, als ich vorher dachte. 

Sie beschreiben Ihren Glauben zu Beginn des Buches als Fast Food, der im Moment zwar gut schmeckt, aber nicht lange sättigt. Haben Sie nun etwas gefunden, das Sie wirklich satt macht?

Nein, ich habe es noch nicht gefunden. Aber Fundamente habe ich gefunden. Ich weiss, dass ich glaube. Wie es weitergeht, weiss ich noch nicht, das braucht Zeit. Aber ich habe mir vorgenommen, davon abzukommen, überall ein bisschen etwas zu konsumieren. Viele sagten mir, es brauche eine gewisse Tiefe und Auseinandersetzung. Das passiert nicht, wenn ich hier mal ein buddhistisches Seminar besuche, da mal etwas Jüdisches. Nach Abschluss des Buchs fand ich aber, ich müsse es jetzt erst mal setzen lassen. Und dabei bin ich immer noch.

Im Vorwort schreiben Sie, dass Sie in dieser oft überfordernden Welt Sicherheit und Halt suchen. Dies verspricht wohl jede Religion. Am Schluss stellen Sie aber fest, dass Glaube und Spiritualität nicht fest und starr seien, sondern sich stets veränderten. Wie können dann gerade diese Systeme den Halt bieten, den Sie suchen?

Ich glaube, ich habe heute einen anderen Zugang zu diesen Themen, als etwa Anfang zwanzig. Damals reiste ich durch Tibet, Nepal und Indien, war in allen möglichen Ashrams, habe verschiedenste Lehren gestreift und wohl gehofft, dadurch erhelle sich klar und deutlich mein Lebensweg vor mir. Heute habe ich andere Fragen, stehe an einem anderen Punkt im Leben. Mit sechzig ist es vielleicht wieder anders. Ich denke schon, dass ich in Glaube und Spiritualität Halt finden werde, bin aber zugleich überzeugt, dass die entsprechenden Glaubensinhalte nicht starr und zwingend für immer gültig zu sein haben. Das klingt zwar wie ein Widerspruch, aber es macht mir Angst, wenn der Glaube zu starr ist.

Ich wünsche mir, dass mir mein Glaube Halt und Mut gibt, losgelöst von dem, was rundherum passiert.
Michelle de Oliveira

Sie haben mit Gläubigen, Atheisten und Wissenschaftlerinnen gesprochen – Menschen, die aus unterschiedlichen Blickwinkeln auf den Glauben blicken. Was sagen Sie nun zusammenfassend, was Glaube ist?

Der Glaube ist für mich ein gewisses Fundament, eine Ruhe. Ein Ort, an den ich mental und emotional gehen kann, der ausserhalb von dem, was sonst gerade in meinem Leben passiert, Bestand hat. Eine Konstante, auf die ich mich zurückbesinnen kann. Ich stelle mir das wie Wurzeln und Flügel vor: Der Glaube verwurzelt mich, gibt mir aber auch den Mut und die Zuversicht, die Flügel auszubreiten auf der verrückten Reise, die das Leben halt ist. Das ist auch der Wunsch an den Glauben, den ich für mich entwickeln möchte: Dass er mir Halt und Mut gibt, losgelöst von dem, was rundherum passiert.