«Engagement ja – aber nicht die volle Identifikation»

Gesellschaft

Viel Empathie und Hören, dann vorsichtige Vorschläge zur Synthese: Das empfiehlt Pfarrer Thomas Philipp jenen, die in der heutigen zerrissenen Welt Brücken bauen möchten.

Wir leben in polarisierten Zeiten. Die Gepflogenheit, dass man miteinander spricht und um Kompromisse ringt, hat es zunehmend schwer. Dazu haben Sie jüngst gepredigt. Wie sind wir in diesen Zustand von Schwarz-Weiss hineingerutscht?

Thomas Philipp: So quasi von einem Tag auf den anderen «hineingerutscht» sind wir nicht. Dahinter steckt eine längere gesellschaftliche Entwicklung. Nehmen wir als Beispiel einen jungen Mann in einem Dorf der 1950er-Jahre. Er hatte bloss die Möglichkeit, in der Jungschar, bei den Schützen oder im Fussballverein mitzumachen. Und vielleicht noch in der Musikgesellschaft. Egal, wo er sich engagierte: Es ging um das gemeinschaftliche Erleben, und er definierte sich dabei in erster Linie als Mitglied der dörflichen Gemeinschaft. Und er wusste aus dem Kontakt mit den Kollegen, wie es bei den anderen Vereinen zu und her geht. Er konnte sagen: Ich bin bei der Musik, da ist es besser als bei den Schützen. Er musste nicht von sich selbst sprechen, um seine Wahl zu begründen. Doch dann wurde die Gesellschaft nach und nach mobiler und informierter, damit erschloss sich der Zugang zu vielen anderen Möglichkeiten der kulturellen und sozialen Selbstentfaltung.

Thomas Philipp (60)

Thomas Philipp (60)

Er hat Theologie, Geschichte und Psychoanalyse in Tübingen, Paris und Heidelberg studiert und promovierte über das Menschenbild in der psychosomatischen Medizin. Der Pfarrer und Buchautor war lange als katholischer Studierendenseelsorger in Bern tätig, heute arbeitet Thomas Philipp als reformierter Pfarrer an der Scherzligkirche in Thun.

Und wo liegt das Problem?

Zunächst handelt es sich um eine bedeutende Zunahme an persönlicher Freiheit, was grundsätzlich zu begrüssen ist. Aber zugleich macht es vieles differenzierter, komplexer und auch komplizierter. Um mich für ein passendes Angebot entscheiden zu können, brauche ich als Mensch zuerst ein Konzept von mir selbst. Wer bin ich? Wo gehöre ich hin? Das kann überfordern, es konfrontiert uns mit dem Schatten unseres Freiheitswillens. In diesem Kontext werden andere Ansichten rasch als störend wahrgenommen. So haue ich in meiner Verunsicherung einfach auf alles ein, was nicht in meine Welt zu gehören scheint – und die Kulturtechnik des ruhigen, überlegten Diskurses zerfällt.

Die eigene Befindlichkeit, die eigene Unsicherheit als Mass aller Dinge?

Ja; und diese Ausgangslage wird durch eine kurzsichtige Bildungspolitik verschärft. Statt junge Menschen zu ihren eigenen Stärken zu führen, ihre Reflexionsfähigkeit auszubilden und ihre Empathie zu wecken, werden sie zur blossen Wirtschaftstauglichkeit ertüchtigt. Bologna hier, Pisa dort: alles soll in Zahlen, in Mess- und Wägbarem abbildbar sein. Dieses Bildungssystem züchtet – nun werde ich emotional – geradezu ungebildete Fachidioten, die mit anspruchsvollen kulturellen Situationen wie der unseren überfordert sind … Und es gibt autokratische Kräfte, die diese Entgleisung des Bildungssystems ausdrücklich begrüssen, denn überforderte Menschen suchen Schutz in der Übersichtlichkeit. Sie sind also bereit, etwas von ihrer Freiheit aufzugeben und sich unter den vermeintlichen Schutzmantel eines autoritären Regimes zu begeben.

In welche Richtung müsste es stattdessen gehen?

Heute wäre ein differenzierter, gebildeter Umgang mit der inneren Welt angemessen – Empathie mit sich selbst und damit auch mit den anderen. Ohne die äussere Welt aus den Augen zu verlieren oder zu entwerten, denn das ist esoterische Versuchung.

Das Bedürfnis nach verbindlichen gesellschaftlichen Normen ist legitim.
Pfarrer Thomas Philipp

Könnte es sein, dass westliche Gesellschaften heute einfach zu liberal sind?

Ja: Wir können es mit der individuellen Verwirklichung so weit treiben, dass das Gefühl, zusammenzugehören, Schaden nimmt. Es schafft ein Problem, jeder noch so kleinen Minderheit Sonderrechte einzuräumen. Ich verstehe die Menschen, die einen wie Donald Trump zum Präsidenten wählen – der verspricht, wieder klare und übersichtliche Verhältnisse zu schaffen. Das Bedürfnis nach verbindlichen gesellschaftlichen Normen ist legitim, weil wir eine Identität nur bauen können in einem stabilen Umfeld, das wir verstehen. Dennoch hätte ich persönlich Trump meine Stimme nicht gegeben. Sein Konzept «Überschaubarkeit zum Preis von Unfreiheit» ist für mich keine Antwort. Es ist aber auch keine Antwort, die Trump-Anhänger per se als «verrückt» abzustempeln.

Macht man sich angreifbar, wenn man sich bei der Diskussion um Normen auf biblische Argumente stützt? Zum Beispiel, dass es laut der Schöpfungsordnung nur Mann und Frau gibt und nicht, wie heute in aktivistischen Kreisen behauptet, 60 oder gar 170 Geschlechter?

Dass es ausschliesslich Mann und Frau gibt und beide im Idealfall auch noch heterosexuell zu sein haben – diese Aussage gerät in Widerspruch zur Realität. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass zwischen 6 bis 15 Prozent Menschen homosexuell sind, quer durch alle Kulturen. Das gehört zur Schöpfung, auch wenn die Bibel das noch nicht so differenziert sieht.

Aber?

Aber wenn eine Drittklässlerin von der Schule heimkommt und der Mutter berichtet, jemand von der Berner Gesundheit habe heute gesagt, es gebe nicht nur Mann und Frau, sondern 60 Geschlechter, kann ich begreifen, wenn die Mutter verärgert reagiert. Das duale Konzept von Mann und Frau ist eine Norm, die man den Kindern ohne schlechtes Gewissen vermitteln darf, alles andere sorgt für Verwirrung. Später kann man es immer noch differenzierter betrachten. Hinzu kommt, dass uns die Frohe Botschaft auffordert, uns so anzunehmen, wie wir sind: in den meisten Fällen geboren als Mann oder Frau, mit all dem Schönen, aber auch all dem Beschwerlichen, das einem die männliche oder weibliche Körperlichkeit beschert.

Das Gender-Thema ist nur eines von verschiedenen Trigger-Themen, die unsere Gesellschaft stark polarisieren: Palästina, Ukraine, Klimawandel, Postkolonialismus, inklusive Sprache… Kann die Kirche als Brückenbauerin dienen?

Ja, sie hat dazu eine hervorragende Ausgangslage. Denn das Christentum sagt «und». Es geht um den Vater UND den Sohn UND den Heiligen Geist. Es handelt sich um einen Gott, der zwei Hände ausstreckt: den Sohn und den Geist. Er vermittelt zwischen aussen und innen. Anders gesagt: Das Christentum ist offen für die Gegenwart Gottes aussen, im Wort des Gegenübers – und es lauscht auf die Gegenwart Gottes in der inneren Welt, in der Sehnsucht, der Hoffnung, in der Lebendigkeit, in der Kreativität … Indes schenkt die Westkirche der inneren Welt schon sehr lange zu wenig Beachtung, in der theologischen Ausbildung, aber auch im Gemeindeleben. Dabei gäbe es sehr wohl eine deutliche Nachfrage an spirituellen Formen wie Exerzitien, Taizé, Meditation … Die Zeichen stehen seit Jahrzehnten an der Wand: das grosse Echo erst auf Drewermann, jetzt auf Anselm Grün mit 20 Millionen verkauften Büchern, weltweit der meistgelesene deutschsprachige Autor. Hier gäbe es etwas zu lernen.

Wer transzendente Erfahrungen macht und in sich etwas vom göttlichen Geist erlebt, ist nicht mehr so sehr darauf aus, Andersdenkende auszugrenzen und kaltzustellen.
Pfarrer Thomas Philipp

Wie hilft das gegen eine Polarisierung der Gesellschaft?

Spirituelles Erleben, diese Urform des Berührtseins, weckt Empathie und Dialogbereitschaft. Wer transzendente Erfahrungen macht und in sich etwas vom göttlichen Geist erlebt, ist nicht mehr so sehr darauf aus, Andersdenkende auszugrenzen und kaltzustellen. Es öffnen sich Türen zu Verständnis, Austausch und Kompromiss.

Gibt es historische Beispiele für einen guten Umgang der Kirche mit konfliktbehafteten Situationen?

Ein Beispiel ist das im Neuen Testament geschilderte Apostelkonzil. Nach heftigem Streit einigten sich die Apostel darauf, dass Paulus auch Nichtjuden missionieren dürfe. Damit war der Konflikt zwar nicht wirklich beigelegt, aber es wurde doch ein Weg gefunden, der es Paulus ermöglichte, sich weiterhin seiner Herzenssache zu widmen. Und im 13. Jahrhundert gelang es der Kirche, in den neu entstehenden, demokratischer verfassten Städten in die Dynamik der Zeit einzutreten. Die städtischen Orden der Franziskaner und Dominikaner: mit Oberen nicht mehr auf Lebenszeit, sondern wie bei den Zunftmeistern auf vier Jahre befristet, dann traten sie zurück ins Glied. Nicht mehr als Einzelne arm in reichen Abteien, sondern als Gemeinschaften arm, auf Gegenseitigkeit angewiesen. Eine Ära, die zu den Höhepunkten der Westkirche zählt.

Und heute? Wie kann das christliche «Und» gelebt werden?

In einer polarisierten Zeit soll die Kirche, sollen Christinnen und Christen die Identifikation mit einem der Pole vermeiden. Waren die Corona-Massnahmen berechtigt, zum Beispiel? Die Identifikation mit einem Pol lässt die Religion ihren Lebensnerv verlieren: in der Zerrissenheit der Welt die tiefere Einheit dahinter und darin erlebbar zu machen. Andernfalls wirkt sie spaltend. Der Gegenpol wird sich gegen die Kirche wehren. Und auch der begünstigte Pol wird bald nicht mehr sehen, welchen Sinn die Kirche eigentlich hat, wenn sie nicht Distanz und Eigenstand wahrt. Dann erscheint die Kirche verzichtbar. Wir Christen sind nicht primär Aktivisten, sondern Menschen, die auf die Gegenwart des Heiligen lauschen. Also Engagement auf beiden Seiten ja, aber nicht volle Identifikation. Viel Empathie und Hören. Richtet nicht! Und dann vorsichtig, tastend, Vorschläge der Synthese.

Predigt von Thomas Philipp

Predigt von Thomas Philipp
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