Könnte es sein, dass westliche Gesellschaften heute einfach zu liberal sind?
Ja: Wir können es mit der individuellen Verwirklichung so weit treiben, dass das Gefühl, zusammenzugehören, Schaden nimmt. Es schafft ein Problem, jeder noch so kleinen Minderheit Sonderrechte einzuräumen. Ich verstehe die Menschen, die einen wie Donald Trump zum Präsidenten wählen – der verspricht, wieder klare und übersichtliche Verhältnisse zu schaffen. Das Bedürfnis nach verbindlichen gesellschaftlichen Normen ist legitim, weil wir eine Identität nur bauen können in einem stabilen Umfeld, das wir verstehen. Dennoch hätte ich persönlich Trump meine Stimme nicht gegeben. Sein Konzept «Überschaubarkeit zum Preis von Unfreiheit» ist für mich keine Antwort. Es ist aber auch keine Antwort, die Trump-Anhänger per se als «verrückt» abzustempeln.
Macht man sich angreifbar, wenn man sich bei der Diskussion um Normen auf biblische Argumente stützt? Zum Beispiel, dass es laut der Schöpfungsordnung nur Mann und Frau gibt und nicht, wie heute in aktivistischen Kreisen behauptet, 60 oder gar 170 Geschlechter?
Dass es ausschliesslich Mann und Frau gibt und beide im Idealfall auch noch heterosexuell zu sein haben – diese Aussage gerät in Widerspruch zur Realität. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass zwischen 6 bis 15 Prozent Menschen homosexuell sind, quer durch alle Kulturen. Das gehört zur Schöpfung, auch wenn die Bibel das noch nicht so differenziert sieht.
Aber?
Aber wenn eine Drittklässlerin von der Schule heimkommt und der Mutter berichtet, jemand von der Berner Gesundheit habe heute gesagt, es gebe nicht nur Mann und Frau, sondern 60 Geschlechter, kann ich begreifen, wenn die Mutter verärgert reagiert. Das duale Konzept von Mann und Frau ist eine Norm, die man den Kindern ohne schlechtes Gewissen vermitteln darf, alles andere sorgt für Verwirrung. Später kann man es immer noch differenzierter betrachten. Hinzu kommt, dass uns die Frohe Botschaft auffordert, uns so anzunehmen, wie wir sind: in den meisten Fällen geboren als Mann oder Frau, mit all dem Schönen, aber auch all dem Beschwerlichen, das einem die männliche oder weibliche Körperlichkeit beschert.
Das Gender-Thema ist nur eines von verschiedenen Trigger-Themen, die unsere Gesellschaft stark polarisieren: Palästina, Ukraine, Klimawandel, Postkolonialismus, inklusive Sprache… Kann die Kirche als Brückenbauerin dienen?
Ja, sie hat dazu eine hervorragende Ausgangslage. Denn das Christentum sagt «und». Es geht um den Vater UND den Sohn UND den Heiligen Geist. Es handelt sich um einen Gott, der zwei Hände ausstreckt: den Sohn und den Geist. Er vermittelt zwischen aussen und innen. Anders gesagt: Das Christentum ist offen für die Gegenwart Gottes aussen, im Wort des Gegenübers – und es lauscht auf die Gegenwart Gottes in der inneren Welt, in der Sehnsucht, der Hoffnung, in der Lebendigkeit, in der Kreativität … Indes schenkt die Westkirche der inneren Welt schon sehr lange zu wenig Beachtung, in der theologischen Ausbildung, aber auch im Gemeindeleben. Dabei gäbe es sehr wohl eine deutliche Nachfrage an spirituellen Formen wie Exerzitien, Taizé, Meditation … Die Zeichen stehen seit Jahrzehnten an der Wand: das grosse Echo erst auf Drewermann, jetzt auf Anselm Grün mit 20 Millionen verkauften Büchern, weltweit der meistgelesene deutschsprachige Autor. Hier gäbe es etwas zu lernen.