Zwölf Tage währte der Krieg zwischen Israel und dem Iran, in den sich auch die USA einmischten. Zahlreiche hochranginge Mitglieder der Revolutionsgarden wurden getötet. Wie geht das Regime aus diesem Konflikt hervor?
Es gibt diesen schönen Begriff «Prosperität in der Krise», und das scheint sich abzuzeichnen. Die Revolutionsgarden erleben eine sehr starke Krise, inszenieren sich aber als Sieger des Konflikts. Dadurch gewinnen sie wiederum an Popularität, vielleicht gar an Durchsetzungsmacht. Das könnte dazu führen, dass wir insbesondere bei den Revolutionsgarden eher eine Stabilisierung des Systems sehen.
Obwohl die israelische Armee so viele Schlüsselpersonen umgebracht hat?
Es wurde ja umgehend eine neue Führungsriege bestellt, die Nachfolge ist klar. Und diese neue Generation, die jetzt an die Macht kommt ist politisch erheblich radikaler. Die ältere Generation, die im iranisch-irakischen Krieg der 80er-Jahre sozialisiert wurde, war viel mehr auf eine bewahrende, eher defensive Politik ausgerichtet.
Das klingt, als könnte das verheerende Auswirkungen auf die Bevölkerung haben, gegen die das Regime ohnehin schon hart vorgeht.
Das erleben wir bereits. Menschen werden willkürlich auf der Strasse verhaftet – ein völlig intransparenter Ausdruck von Macht für die Bevölkerung. Diese grosse Unsicherheit führt zu einer Art Faschistisierung des Landes.
«Die neue Generation an der Macht ist erheblich radikaler»
Islamwisenschaftler Reinhard Schulze sieht Irans Revolutionsgarden nach dem Krieg gegen Israel gestärkt. Die Bahai seien als religiöse Minderheit nun besonders gefährdet.
Bedchem-Kirche in Isfahan: Armenisch-apostolische Kirche für die christliche Minderheit. (Foto: Felix Reich)


Ehemaliger Leiter des Kompetenzzentrums Fino
Reinhard Schulze ist in Deutschland aufgewachsen und hat in Bonn Islamwissenschaft, Semitistik, Linguistik und Romanistik studiert. Von 1995 bis 2018 war er in Bern Professor für Islamwissenschaft und Neuere Orientalische Philologie. Nach seiner Emeritierung leitete er dort bis Anfang 2023 das Kompetenzzentrum Forum Islam und Naher Osten (Fino).
Schon in den letzten Jahren schien die Gewalt des Regimes eher zuzunehmen. Proteste wurden niedergeschlagen Westliche Länder versuchten erfolglos, Hinrichtungen eigener Bürger zu verhindern. Zeichnet sich diese Faschistisierung schon länger ab?
Im Iran deutet sich schon seit Beginn der 2020er-Jahre eine Verschiebung der Machtpole an. Die Revolutionsgarden werden immer stärker zum Machtzentrum des Irans. Die Regierung, die eigentlich die zivilen Verwaltungsaufgaben innehat, gerät immer stärker ins Hintertreffen und wird zum Exekutivorgan der Revolutionsgarden. Kontrollinstanzen, welche die Revolutionsgarden in ihrem Einfluss begrenzen könnten, gibt es kaum mehr. Der Zwölftage-Krieg könnte diese Entwicklung weiter beschleunigen, und das könnte dazu führen, dass die Revolutionsgarden zu einer offenen Diktatur übergehen.
Das heisst, weltliche und geistlichen Machstrukturen sind nicht mehr im Gleichgewicht?
Genau. Ein entscheidender Moment war der Abschuss einer ukrainischen Passagiermaschine 2020 durch eine Rakete der Revolutionsgarden. Diese hatten das Flugzeug offenbar fälschlicherweise für ein feindliches Objekt gehalten. Über 170 Menschen starben. Der Fall zeigte, dass die Revolutionsgarden gar nicht so machtvoll sind, ihre Technologie nicht so zuverlässig ist, wie sie behaupten. Dafür wurden sie vom zivilen Militär und den Behörden stark kritisiert. Deshalb mussten sie gegensteuern und demonstrieren, dass sie diejenigen sind, die über die militärische Macht im Land verfügen.
Das Verhältnis des Staates zu religiösen Minderheiten ist paradox. Einerseits garantiert der Iran Gläubigen einiger Religionen Freiheiten, angestammte assyrische und armenische Christen etwa, können ihre Religion in gewissem Masse praktizieren. Andererseits geraten religiöse Minderheiten immer wieder in den Fokus. Wie kommt das?
Im Iran ist der Klerus, insbesondere jener, der an der Macht ist, durchdrungen von Verschwörungstheorien und -ängsten. Es ist eine Tradition der Verfeindschaftung, wie man sie auch aus anderen Ländern kennt. Im Iran richtete sie sich seit dem 19. Jahrhundert gegen die Bahai, dann auch noch gegen die Juden, armenische Christen, andere christliche Gemeinschaften, und schliesslich traf es wieder die Juden und die Bahai. So geht es hin und her, aber es ist immer ein Bild von Verfeindschaftung, das sich an Konfessionsgrenzen, die fast ethnisch interpretiert werden, orientiert.
Wer ist in der derzeitigen Situation am ehesten in Gefahr?
In erster Linie wohl die Bahai. Da sie ihr wichtigstes Heiligtum in Haifa in Israel haben, werden sie immer als erste der Spionage für Israel verdächtigt. Das war in den Achtziger- und Neunziger-Jahren so und mich würde nicht wundern, wenn sich das wiederholt.
Sie sagen, dass die neuen Revolutionsgarden offensiv ausgerichtet sind im Vergleich zur Regierung, die eher defensiver agiert. Ist eine offensive Strategie überhaupt möglich bei starken Gegnern wie Israel und den USA?
Hätte man den Überfall am 7. Oktober 2023 der Hamas zugetraut? Das Verständnis von offensiver Haltung ist bei Teilen der Revolutionsgarden wie auch der Hamas eng mit einer Opferkultur verknüpft. Opfer innerhalb der Revolutionsgarden und auch der Bevölkerung werden akzeptiert, weil es der Auftrag an die Nation ist, diesen Krieg offensiv zu führen.
Wie würde eine offensive Strategie aussehen? Angriffe auf US-Militär in der Region?
Zum Beispiel. Wir hatten immer wieder solche Fälle. Etwa, dass ein Schnellboot losgeschickt wird, um im persischen Golf einen Tanker anzugreifen. Es gab immer wieder Einzelaktionen.
Viele Exil-Iraner hoffen, dass es der Zivilgesellschaft gelingen wird, das Regime zu stürzen. Die Kopftuchproteste nach dem Tod der Studentin Mahsa Amini werteten sie als wichtiges Zeichen. Wie schätzen Sie die Chancen ein?
Es wäre ein Irrtum zu glauben, dass ein Staatsstreich im Iran automatisch auf Repräsentation der Zivilgesellschaft und der gesellschaftlichen Protestbewegung hinausliefe. Eher ginge es um einen Staatsstreich innerhalb des Systems, der das System bewahren soll – eine Reaktion darauf, dass die Revolutionsgarden mit ihrer Diktatur das System selbst in Frage stellen.
Es ginge in erster Linie also darum, die Machtverhältnisse zwischen zivilen und religiösen Strukturen wiederherzustellen?
Ja. Das könnte zwar zu einer Entspannung im Verhältnis zur Bevölkerung und der aufgeheizten Stimmung führen. Aber dass sich im Iran eine grosse Revolte gegen das System formiert, ist wohl eher Wunschdenken vieler Oppositioneller und hat mit der Wirklichkeit im Land nichts zu tun.
Die breite Bevölkerung will aber doch auch einen Wandel?
Das System gibt es jetzt über 40 Jahre, und es wird als Erfolgsgeschichte verkauft. Sehr viele Eliten im Iran wollen diesen Erfolg nicht aufs Spiel setzen. Sie wollen das System allenfalls verbessern und reformieren, aber nicht abschaffen. Die breite Bevölkerung trägt das System schon lange nicht mehr mit, doch fehlen ihr bislang die Machtmittel, einen politischen Wandel zu erzwingen.