Recherche 25. Oktober 2022, von Katharina Kilchenmann

Empörung, Wut und Ohnmacht im Mullah-Staat

Demonstrationen

Die Proteste im Iran weiten sich aus. Umso härter greift das Regime durch. Der Widerstandswille scheint grösser denn je. Ob er reicht, um das System zu verändern, ist offen.

«Die Iranische Republik ist eine Anti-Frauen-, Anti-Lebens- und eine Anti-Freiheitsregierung.» Die Stimme der Demonstrantin vor dem iranischen Botschaftsgebäude in Bern überschlägt sich, doch sie ruft noch lau-ter ins Mikrofon: «Unterstützt die Frau-en und alle Menschen im Iran. Die Mörder müssen weg.» In ihrer ursprünglichen Heimat habe sie als Frau keine Möglichkeit gehabt, ihre Meinung zu sagen, berichtet die Exil-Iranerin ein wenig später im Gespräch. «Hier in der Schweiz ist es zum Glück anders.»

Mutiger Freiheitskampf

Seit der kleinen Kundgebung Anfang Oktober im Berner Botschaftsquartier versammelt sich die iranische Diaspora zu immer grösseren Protesten in vielen europäischen Städten. Sie unterstützen damit jene, die im Iran selbst für Menschenrechte und Freiheit auf die Strasse gehen und dabei ihr Leben riskieren.

Seit dem Sturz des Schahs 1979 ist die Kleiderordnung für die Frauen immer rigoroser und das öffentliche Leben immer eingeschränkter geworden
Elika Djalili, Exiliranerin

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International spricht von rund hundertfünfzig getöteten Demonstrierenden, darunter zwei Dutzend Minderjährige.

Ausgelöst wurden die Aufstände durch den Tod der jungen Mahsa Amini. Sie starb nach der Festnahme durch die Sittenpolizei. Der Vorwurf: Sie habe ihr Kopftuch nicht vorschriftsgemäss getragen. Seit dem Sturz des Schahs 1979 sei die Kleiderordnung für die Frauen immer rigoroser und das öffentliche Leben immer eingeschränkter geworden, führt Elika Djalili aus.

Alle Macht den religiösen Führern

Schah Reza Chan errichtete im Iran eine Militärdiktatur, die sein Sohn Mohammad Reza weiter ausbaute. 1979 musste dieser nach monatelangen Mas­senprotesten abdanken. Dabei gelang es dem Rechtsgelehrten Ayatollah Chomeini, seine Vorstellungen einer «islamischen Republik» in den Protesten zu verankern. In der von ihm selbst geschriebenen Verfassung wurden die Mullahs, die islamischen Rechtsgelehrten, mit einer Herrschafts­gewalt ausgestattet, die neben den klassischen Gewalten des Staats Bestand haben sollte. Die sehr konser­vative Rechtsauffassung führte zu einer massiven Verschlechterung der Rechtsstellung der Frauen. Ali Chamenei, der 1989 zum Nachfolger von Chomeini gekürt wurde, baute das Sys­tem der Revolutionsordnung aus, das sich immer stärker auf die Macht der Revolutionsgarden stützt. Gegen dieses System formierten sich in den vergangenen Jahren aus sehr unterschiedlichen Anlässen immer wie­der Protestbewegungen.

Die wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Studien zum Nahen Osten der Universität Bern stellt fest: Junge Menschen, Frauen und Männer unter fünfundzwanzig Jahren, seien nicht mehr bereit, die Gewalt der Sittenwächter hinzunehmen. «Die Jungen denken global, kennen durch das Internet alternative Lebensformen und kämpfen für mehr Selbstbestimmung und Freiheit.»

Eine Mischung aus Wut, Empörung und Ohnmacht treibt sie an, und sie sind bereit, ihren Kampf mit dem Leben zu bezahlen. Die Proteste sind – im Gegensatz zu früheren, bei denen einzelne Gruppen etwa gegen Benzin- oder Brotpreiserhöhungen demonstrierten – in der Bevölkerung breit abgestützt.

«Menschen jeden Alters und aus allen sozialen Schichten gehen derzeit auf die Strasse», weiss Djalili. Die Frauen nehmen eine besondere Rolle ein. «Die neue Frauengeneration ist gut ausgebildet und selbstbewusst. Sie hat die Bewegung ganz wesentlich in Gang gebracht.»

Der Iran als Diktatur 

Seit der Revolution vor 43 Jahren beruht das System im Iran auf zwei Säulen: die eine ist die Regierung mit dem Verwaltungsapparat, die andere die Revolutionsordnung mit ihren Gesetzen. Mit der Wahl des ultrakonservativen Klerikers Ebra-him Raisi zum Präsidenten der Republik im Jahr 2021 sei nun dieses duale System de facto aufgehoben, sagt der Islamwissenschaftler Reinhard Schulze. 

Das Regime ist eine Diktatur geworden und der Religionsführer Ali Chamenei ein Diktator.
Reinhard Schulze, Islamwissenschaftler

«Die islamische Revolutionsgarde hat die Macht über die Politik und damit über das ganze Land übernommen», erklärt er. «Das Regime ist eine Diktatur geworden und der Religionsführer Ali Chamenei ein Diktator.» Das mache die Situation im Iran so explosiv.

Wenig Untersützung fürs Regime

Die aktuellen Proteste sind also mehr als der Widerstand gegen die Zwangsordnung, ein Kopftuch zu tragen, und mehr als ein Kampf für Frauen- und allgemeine Menschenrechte. Es ist der Versuch, eine Diktatur zu stürzen. Die Mobilisierung in der Bevölkerung habe ein noch nie da gewesenes Ausmass erreicht, hält der Irankenner Schulze fest. Lediglich noch geschätzte 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung stünden hinter dem Regime.

Die neue Frauengeneration ist gut ausgebildet und selbstbewusst. Sie hat die Bewegung ganz wesentlich ins Rollen gebracht.
Elika Djalili, Irankennerin

Das stimme durchaus hoffnungsvoll, sagt die iranisch-schweizerische Doppelbürgerin Elika Djalili. Aber es sei auch klar, dass die iranische Regierung mit allen Mitteln versuchen werde, diesen Aufstand, wie all die vorangegangenen auch, niederzuschlagen. «Wir sehen hier, wie ein autoritäres Regime den Islam instrumentalisiert, um an der Macht zu bleiben.»

Religion zum Machterhalt

Das habe nichts mehr mit Religion zu tun. Viele Musliminnen und Muslime im Iran würden sich von ihrem Glauben abwenden. «Sie denken wohl, wenn das die Realität des Islam ist, dass man so in einem islamischen Land behandelt wird, dann können wir zu dieser Religion nicht mehr stehen.»