Recherche 18. September 2023, von Christian Kaiser

Experte Urs Gösken schätzt die Lage im Iran kritisch ein

Menschenrechte

Vor einem Jahr löste der Tod der Iranerin Jina Mahsa Amini die grössten Proteste gegen das Islamische Regime seit Bestehen aus. Das Mullah-Regime reagiert weiter mit grosser Härte.

Es ist ein Jahr her seit die 22-jährige Jina Mahsa Amini mutmasslich durch iranische Sicherheitskräfte getötet wurde; sie war zuvor in Teheran durch die staatlichen Sittenwächter verhaftet worden, weil sie gegen das Kopftuchtragegebot verstiess. Seither ist der Iran in Aufruhr. Und zum Jahrestag am 16. September waren erneute Massenproteste erwartet worden. Uns erreichen widersprüchliche Informationen dazu – es scheint schwer, sich nach dem Wochenende ein klares Bild von der Situation zu machen. Wie schätzen Sie die Lage ein?

Urs Gösken: Die Behörden waren gut vorbereitet, sie haben die Sicherheitsmassnahmen bereits im Vorfeld verstärkt. In Kurdistan, wo Jina Mahsa Amini lebte, kam es zu einigen Verhaftungen. Auch ihr Vater war in Gewahrsam genommen worden. Mit der fadenscheinigen Begründung man wolle «keinen Missbrauch des Andenkens an Mahsa Amini».

Das scheint ein ungeheuerlich perfider Verhaftungsgrund ...

Es ist die Argumentation, die von diesem Regime zu erwarten war; es kann weder die Proteste noch den Namen der Getöteten totschweigen, sondern versucht das Ganze, als orchestrierte Verschwörung des Westens darzustellen.

Sie sprechen die Vorgänge in Aminis Heimatstadt Saghes an, die im Kurdengebiet liegt. Amini war eine junge Kurdin, wie fest ist der Rückhalt der Proteste in der Gesamtbevölkerung?

Es ist wichtig zu sehen, dass es hier um viel mehr geht als um kurdischen Widerstand. Das Schicksal von Mahsa Amini, die offenbar wegen eines schlechtsitzenden Kopftuches verstarb, haben alle Frauen im Iran auf sich bezogen. Wenn es sich um ein rein kurdisches Problem gehandelt hätte, wäre das Regime innert einer Woche damit fertig gewesen. Aber die Demonstrationen halten auch noch ein Jahr später im ganzen Land an. Junge Frauen ohne Kopftuch sind zwar das sichtbarste Zeichen der Rebellion, aber ihre Eltern unterstützen die Demonstrationen durchaus. Ob still im Hintergrund oder lauthals auf der Strasse – Männer, Frauen aller Altersschichten unterstützen die Opposition.

Laut einem Bericht des Spiegels sollen sogar Mitglieder der Familie von Ajatollah Ali Chamenei ihre Sympathie für die Demonstrationen bekundet haben ...

... ja, und ein paar Familienmitglieder sind sogar verhaftet worden.

Insgesamt sollen nach dem Bericht einer iranischen Zeitung an diesem Wochenende wieder mehr als 260 Menschen festgenommen worden sein. Schon im Vorfeld war es ja zu vielen Verhaftungen gekommen. Die Lage auf den Strassen Teherans schien am Samstag und Sonntag verhältnismässig ruhig. Die Repressalien durch das Regime scheinen den gewünschten Erfolg zu haben.

Die Unterdrückung durch das Mullah-Regime funktioniert seit 44 Jahren. Es weiss auch, wie es selber an die Macht kam: Als das Schah-Regime Schwäche zeigte und Kompromissbereitschaft, läutete es sein eigenes Ende ein. Die Mullahs haben ihre Lektion gelernt. Damals haben sie selber ja die verbliebenen Vertreter des Schah-Regimes in Schauprozessen abgeurteilt und die von Folterspuren übersäten Leichen als Abschreckung zur Schau gestellt. Die Vertreter der Mullahs wissen, dass sie wohl kaum friedlich in Pension geschickt werden, wenn es mit ihrer Herrschaft vorbei ist. Möglichst hart, möglichst schnell hart und möglichst dauerhaft hart zuzuschlagen ist für diese Regierung die bewährte Strategie.

Ein ausgewiesener Iran-Experte: Urs Gösken von der ETH Zürich

Ein ausgewiesener Iran-Experte: Urs Gösken von der ETH Zürich

Urs Gösken ist an der ETH Zürich Dozent für Hintergrundwissen rund um die islamische Welt. Ausserdem lehrt er Arabisch am Sprachenzentrum der ETH. Seit vielen Jahren leitet er auch Studienreisen für Hochschulen in den Nahen Osten. Nach dem Studium lebte er ein Jahr lang selbst im Iran, seine Lebenspartnerin stammt aus dem Iran. Seither hat Urs Gösken das Land sowohl privat als auch zu Forschungszwecken sehr oft bereist. Zuletzt war er im April 2022 im Rahmen einer ETH-Alumni-Studienreise im Iran. Er sagt: «Niemand hätte damals gedacht, dass das Land schon bald politisch explodieren würde.»

Brutalität als Überlebensmaxime?

Was auch immer islamisch in diesem Zusammenhang heissen mag: Die «Islamische Republik» muss ihren Repressionsapparat bei der Stange halten, sie ist sowohl in der Innen- wie auch in der Aussenpolitik zunehmend abhängiger geworden von den Sicherheitskräften. Sie sorgen nicht nur im Innern für Ruhe, Pasdaran (Islamische Revolutionswächter) und Eliteeinheiten der iranischen Armee vertreten iranische Interessen bis in den Libanon und den Jemen. Im Gegenzug verlangen und bekommen sie Macht und Einfluss innerhalb des Regimes. Der ganze Sicherheitsapparat kann nur verlieren, wenn das Regime geschwächt oder gestürzt wird.

Einige politische Beobachter sehen die Härte gegenüber der eigenen Bevölkerung als Schwäche des Regimes an.

Ich denke, es ist in erster Linie ein Zeichen dafür, dass sie die Machtmittel noch voll in der Hand haben. Zudem haben alle am Regime Beteiligten etwas, was die Gegner nicht haben: einen politischen Grundkonsens. Die Glaubensbrüder sind zwar in einigen Glaubensfragen auch recht zerstritten, aber was sie eint, ist die Überzeugung, dass die Differenzen nicht so weit gehen dürfen, dass es ihre Macht gefährdet.

Aber die Regimegegner eint die Opposition gegen die Mullahs.

Ja, aber der Grundkonsens beschränkt sich auf das, was sie nicht wollen; dieses Regime. Das, was sie stattdessen wollen, ist unklar – beziehungsweise herrscht in dieser Frage keine Einigkeit. Und ich fürchte, dass das neben der Repression des Regimes der zweite hemmende Faktor ist: Der Opposition ist gar nicht wirklich klar, was sie will.

Nichtsdestotrotz gab es zahlreiche Solidaritätsbekundungen mit der iranischen Opposition. Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz solidarisierte sich in einem Post mit dem Slogan der Demonstrantinnen "Frau, Leben, Freiheit", die Bundesaussenministerin Annalena Baerbock will die Schicksale der Iranerinnen und Iraner international "auf die Tagesordnung setzen". Von solch klaren Statements ist die Schweizer Politik weit entfernt. Organisationen wie Free Iran kritisieren die Schweizer Haltung, auch die wirtschaftlichen Verflechtungen sind ihnen ein Dorn im Auge. Was sagen Sie dazu?

Zuerst einmal muss man sehen, dass der Einfluss der Schweizer oder auch der Deutschen Politik auf die Vorgänge im souveränen Staat Iran absolut minimal ist. Das ist ja nicht irgendein Bundesland oder eine Kolonie. Aber die Schweiz hat ja immerhin ein Schutzmachtmandat der USA im Iran, das heisst, sie vertritt die diplomatischen Interessen der USA in Teheran. Es soll mithelfen, die internationalen Konflikte rund um den Iran zu entschärfen. Es ist im Interesse der USA, des Irans und der Schweiz, dass dieses Mandat bestehen bleibt. Würde die Schweiz alle Wirtschaftssanktionen übernehmen oder diplomatisch zu sehr auf das Regime Einfluss nehmen wollen, wäre dieses Völkerrechtsmandat sicher gefährdet. Ausserdem hat die Schweiz in der Vergangenheit zahlreiche islamische Jungwissenschafter mit Visa in die Schweiz geholt – was einen nicht zu unterschätzenden Know-how-Transfer ermöglichte. Wenn die Schweiz diplomatisch in Teheran nicht mehr vertreten wäre, könnte sie das nicht mehr.

Und trotzdem gibt es eine lange internationale Sanktionsliste gegen den Iran, der sich die Schweiz nicht anschliesst.

Sanktionen sind leider kein Allheilmittel. Man muss doch sehen, wen die Sanktionen am meisten treffen. Die Vertreter des Regimes mit ihren Devisenguthaben sind nicht die Leidtragenden, die haben ihre Schäfchen im Trockenen. Wirtschaftssanktionen haben v.a. zur Folge, dass sich die Vermögen der Bevölkerung in der Lokalwährung Rial abwerten ...

... und die Schere zu den reichen Vertretern des Regimes mit ihren Devisenreserven weiter aufgeht?

Ja, man muss ja auch sehen, dass der Iran in den letzten 44 Jahren kein Lieblingsregime des Westens war, mit dem man gern Geschäfte trieb. Das Lieblingsregime des Westens im Nahen Osten war die Vorgängerregierung, das Schah-Regime, und die wurde mit einer Revolution beseitigt, u.a. gerade weil sie das Lieblings-Regime des Westens war.

Aber der Iran gilt ja auch als einer der grössten Terrorfinanzierer weltweit, auch deshalb hat man ihn auf die Sanktionslisten gesetzt. Falsch?

Ich möchte einfach davor warnen, den Nutzen von Sanktionen zu überschätzen. Ich habe sowohl im Iran als auch im Irak in sanktionierten Ländern gelebt und gesehen; das Volk wird durch Sanktionen noch ärmer und noch abhängiger vom System. Im schlimmsten Fall ist man am Ende abhängig von Lebensmittelrationen des Regimes. Und dann macht niemand mehr Opposition.

Also soll alles beim Alten bleiben? Die Schweiz beteiligt sich nicht an den Sanktionen und hofiert den Mullahs, um das Schutzmandat nicht zu gefährden? Und auch die Deutschen bewirken mit ihrer Haltung im Grunde nichts?

Ich will da nicht einer bestimmten politischen Haltung das Wort reden, aber wir haben hier einfach ein klassisches Dilemma vor uns; der Westen kann sich im Grunde nur falsch verhalten. Wenn er nichts tut, setzt er sich dem Vorwurf aus, dass er seine Werte verrät. Und wenn er resolut interveniert, liefert er dem Regime die Beweise dafür freihaus, dass es sich hier um eine vom Westen gesteuerte Einmischung und Manipulation handelt, die das Land destabilisieren soll.

Apropos: Wie stabil ist dieses Regime noch?

Es wird ja jetzt gern kommentiert, es habe seinen letzten Kredit verspielt. Da muss man einfach sehen; wir haben es hier mit einer Diktatur zu tun, die nicht auf die Glaubwürdigkeit in der Bevölkerung angewiesen ist. Der Islamischen Republik Iran wird nachgesagt, sie sei tot, seit sie existiert. Das ist jetzt seit 44 Jahren der Fall. Vieles in der aktuellen Diskussion ist eher ideologisches Wunschdenken als realistische Lageeinschätzung. Und die Aufgabe der politischen Analyse ist es eben, Analysen zu liefern, die sich nicht an ideologischem Wunschdenken orientieren.

Was wäre denn aus Ihrer Sicht wünschenswert?

Ein tragfähiges politisches Programm für die Zukunft des Irans. Es ist zurzeit nicht in Sicht. Und möglichst laut «Frau, Leben, Freiheit» zu rufen ist noch kein politisches Programm.