«Jeder Mensch hat das Recht auf ein sauberes Bett»

Diakonie

Seit sechs Jahren gibt es in der Badener Altstadt eine Notschlafstelle. Trotz hoher Auslastung kämpft der Verein mit finanziellen Schwierigkeiten. Ein Augenschein vor Ort.

Es ist viel los an diesem warmen Sommerabend in der Badener Altstadt. Leute flanieren durch die verwinkelten Gassen, plaudern in lauschigen Gartenbeizen. 

Auf einer kleinen Holzbank vor dem Eckhaus zwischen der Oberen und der Unteren Halde sitzt eine etwa 30-jährige Frau, schwarzes Trägerkleid, blonde hochgesteckte Haare und auffällig violett geschminkte Augen. Neben ihr an die Wand gelehnt zieht ein älterer, erschöpft wirkender Mann an einer Zigarette. Altstadtgäste wie in der Beiz nebenan? 

Nicht ganz: «Die zwei warten darauf, dass wir aufmachen», sagt Susi Horvath. Sie ist die Leiterin der Notschlafstelle an der Oberen Halde, die vom christlichen Sozialwerk Hope im Auftrag des Vereins Notschlafstelle betrieben wird. Sie geht auf sie zu und begrüsst sie herzlich mit ihrer rauen Stimme. Noch ist die Notschlafstelle nicht geöffnet, der Mann und die Frau müssen warten.

Erster Eindruck ist wichtig

Zurück im Haus prüft die 64-Jährige die fünf Mehrpersonen- und das Einzelzimmer. Alle 16 Betten sind mit frisch gewaschener weisser Bettwäsche bezogen. Jeder Mensch habe ein Recht auf ein sauberes Bett, ist Horvath überzeugt, ebenso auf einen würde- und respektvollen Kontakt auf Augenhöhe. Neben jedem Bett steht eine Plastikbox für die Habseligkeiten. Bilder hängen keine an den Wänden, auch nicht in den Gängen oder im Esszimmer – um die Verletzungsgefahr zu vermeiden, wenn jemand austickt. 

Punkt 20 Uhr geht die Notschlafstelle auf. Einzeln treten Frauen und Männer herein. Horvath, die seit der Eröffnung im September 2019 hier arbeitet, kennt sie alle. «Der gestaffelte Eintritt verhindert Konflikte und ermöglicht mir einen ersten Eindruck, wie es den Leuten geht», sagt die robust wirkende Frau. Sie begegnet ihnen vertraut, warmherzig, mit klaren Worten. 

Im geschützten Haus atmen manche sichtbar auf. Andere wollen kurz etwas essen und gehen danach nochmals auf die Gasse, bis die Notschlafstelle um 23 Uhr schliesst. «Hast du etwas dabei?», fragt sie Horvath routiniert. Ein Messer wird abgegeben, auch eine halb volle Weissweinflasche. Die meisten verneinen, wissen, dass die Notschlafstelle ein abstinentes Haus ist. Nur Rauchen ist in der Küche erlaubt, wenn niemand am Essen ist. 

Eine halbe Stunde später ist in der Notunterkunft gerade noch ein einziger Platz frei. Die Gäste kommen von überall aus dem Aargau, einzelne auch aus anderen Kantonen. Obwohl in Olten im April 2024 eine zweite Notschlafstelle eröffnet wurde, nahmen in Baden die Übernachtungen im vergangenen Jahr deutlich zu. Darunter sind viele Junge und manche, deren Obdachlosigkeit ihnen nicht anzusehen ist, wie der blonden Frau mit den violett geschminkten Augen.

«Nebst Suchtbetroffenen suchen uns zunehmend auch Menschen mit psychischen Problemen und Erkrankungen auf», erzählt Susanne Muth, Präsidentin des Vereins Notschlafstelle, im Gespräch drei Tage später. Schwierig werde es, wenn hochgradig psychotische Leute in die Notschlafstelle kämen, welche auch die Psychiatrischen Dienste Aargau abwiesen. «Unser Personal ist dafür nicht ausgebildet.» In solchen Fällen sei man dankbar für die gute Zusammenarbeit mit der Polizei.

Helfen aus Dankbarkeit

Von den zwei Betreuungspersonen pro Nachtschicht bringt in der Notschlafstelle Baden jeweils nur eine eine sozialpädagogische Ausbildung mit. Unterstützt wird diese von Freiwilligen – wie die 71-jährige Margrit. Die Frau mit Tätowierungen am Hals und auf den Armen hat zum Abendessen Poulet-Curry und Teigwaren gekocht, im Essraum hört sie allen aufmerksam zu. Der Betrieb würde ohne Freiwillige nicht funktionieren. Pro Schicht erhält Margrit 100 Franken. Die Notschlafstelle ist für sie aber eine Herzensangelegenheit. Sie sei sehr dankbar, hier helfen zu dürfen, sagt sie: «Das kann ich ja auch nur, weil es mir selber so gut geht.» 

Wir glauben daran, dass sich die Situation unserer Klienten verbessern kann.
Susanne Muth, Präsidentin Verein Notschlafstelle

Trotz tiefer Löhne kämpft die Notschlafstelle mit Geldsorgen. Zwar beteiligt sich der Kanton Aargau seit 2022 jährlich mit 150 000 Franken am Betrieb, dieser Betrag deckt jedoch nur zwei Drittel der Kosten. Der Rest wird durch Spenden und Zuwendungen finanziert. Allerdings reicht das alles nicht: Für das laufende Jahr erwartet der Verein ein Defizit von zirka 50 000 Franken. Die Gründe sind laut Präsidentin Muth gestiegene Belegungszahlen und höhere Kosten bei gleichzeitigem Spendenrückgang.

Geschrumpft ist auch die finanzielle Unterstützung der Kirchen. Die römisch-katholische Landeskirche des Kantons Aargau reduzierte ihren Jahresbeitrag in den letzten Jahren von 30 000 auf 15 000 Franken. Die Reformierte Kirche Aargau unterstützte die Notschlafstelle zuletzt im Jahr 2022 mit 10 000 Franken. Seither fliessen von reformierter Seite nur noch vereinzelt Spenden aus Kirchgemeinden. Dennoch:  «Für jeden Beitrag ist unser Verein dankbar», sagt Muth.

Schritte vorwärts 

Für Muth, die  zur Geschäftsleitung der Dargebotenen Hand Aargau Solothurn gehört, steht ausser Frage: Notschlafstellen wie jene in Baden erfüllen eine wichtige Funktion. Sie ist überzeugt: «Wenn Menschen ein Obdach und zu essen haben, müssen sie weniger kämpfen und können Schritte vorwärts machen.» 

Deshalb dürfen die Gäste in der Oberen Halde 23 notfalls auch länger bleiben und die Beratungs- und Unterstützungsangebote des Sozialwerks Hope nutzen. «Wir glauben fest daran, dass sich ihre Situation verbessern kann», sagt Muth mit Nachdruck und fügt an: «Wenn wir ihnen nicht helfen, nichts tun, dann ist es für die Menschen selbst noch viel schwieriger.»

Nach Mitternacht wird es langsam still im Haus. Die meisten Gäste liegen in ihren Betten. Susi Horvath bleibt auf. Sie wäscht Kleider, erledigt Büroarbeiten und leistet in der Küche jemandem Gesellschaft, der nicht schlafen kann. Um kurz vor drei Uhr schliesst sie die Bürotür von innen ab und legt sich in das schmale Bett beim Fenster. Sie hofft, dass diese Nacht für alle ruhig bleibt.

www.notschlafstelle-aargau.ch