Kultur 30. August 2024, von Felix Reich

Glauben in den Zwischenräumen

Literatur

Das Werk von Franz Kafka erzählt von der Suche nach dem verborgenen Sinn. Dabei bleibt die Tür zur Transzendenz stets einen Fussbreit offen.

Als bei ihm die Tuberkulose ausbricht, an der er sieben Jahre später sterben sollte, zieht sich Franz Kafka ins böhmische Dorf Zürau zurück, wo seine Schwester einen Hof bewirtschaftet. Er vertieft sich ins Werk des Philosophen Søren Kierkegaard, die eigenen Aufzeichnungen kreisen um das «Unzerstörbare im Menschen», das stets verborgen bleibe. Ohne «dauerhaftes Vertrauen» darin könne der Mensch nicht leben. Und weiter: «Eine der Ausdrucksmöglichkeiten dieses Verborgenbleibens ist der Glaube an einen persönlichen Gott.»

Die Botschaft verhallt

Gott selbst bleibt eine Leerstelle, er offenbart sich nicht. Ebenso wenig legt Kafka ein Bekenntnis ab. Seinen Blick richtet er vielmehr auf das Phänomen des Glaubens. Die Verbindung zum Sinn gebenden Zentrum scheint gekappt oder der Weg dahin zumindest so labyrinthisch, dass die frohe Botschaft im Echoraum zu verhallen droht.

So erzählt Franz Kafka in einem der in Zürau entstandenen Aphorismen von einem Volk aus lauter Kurieren, denen der König fehlt. Sie schicken «einander selbst die sinnlos gewordenen Meldungen zu». Ihrem «elenden Leben ein Ende» zu machen, wagen sie nicht «wegen des Diensteids». Ohne die zumindest erahnte oder erhoffte Existenz Gottes dreht der Glauben leer. Die religiöse Praxis wird zur rituellen Routine.

Das Unzerstörbare

Das Sinn gebende Zentrum, welches das Unzerstörbare als Bezugspunkt benötigt, bleibt freilich existenziell. Das Fragment über den Bau der Chinesischen Mauer deutet Religion und Mythos als sozialen Kitt. Der deutsche Philosoph und Literaturwissenschaftler Rüdiger Safranski schreibt in seiner neuen aufschlussreichen Kafka-Biografie: «Sie gehören zu den geistigen Kräften, die überhaupt erst diesen gesellschaftlichen Zusammenhalt bilden helfen.»  

Gebaut wird die Mauer, weil der Mythos eine Gefahr behauptet, die von feindlichen Völkern ausgehe. Die Religion stiftet das ferne Kaisertum, das den Mauerbau angeordnet haben soll, aber stumm bleibt.

Verkümmerte Religion

Offen bleibt, ob die Mauer zur Abwehr der Gefahr, die sich vielleicht als irreal erweist, taugt. Auch die Frage, ob der Kaiser den Bau jemals angeordnet hatte, verblasst. Entscheidend ist der Prozess des Mauerbaus: Dieser stiftet Gemeinschaft, aus ihm schöpfen die Arbeiter Sinn.  

Biografisch zeigt sich Kafkas Suche nach einem durch eine religiöse Praxis genährten Zusammengehörigkeitsgefühl in seiner frühen Faszination für das Judentum.  Im «Brief an den Vater» (1919) beklagt Kafka Traditionsabbruch und Assimilation seiner Familie: Die Religion sei zur entleerten, auf soziale Konformität getrimmten Lebensgewohnheit verkümmert.

Das absolute Gebot

Im Kreis einer jüdischen Schauspieltruppe hingegen eröffnet sich ihm die Gemeinsamkeit «des Bodens, der Luft, des Gebots». In Prag, wo er 1883 geboren wurde, einigen sich die rivalisierenden deutschen und tschechischen Nationalisten nur auf ihren gemeinsamen Antisemitismus. Immer wieder kommt es zu Gewaltakten. Kafka bleibt die Rückbesinnung auf seine jüdische Identität. Auch mit dem Zionismus setzt er sich auseinander, plant wiederholt die Ausreise nach Palästina.

Kafkas Religiosität bestimmen zwei Pole: die kollektive, rituelle Praxis und der Glaube als radikaler Akt des Individuums. Wie Kierkegaard befasst er sich mit Abraham, der bereit ist, seinen eigenen Sohn zu opfern. Er setzt das Gebot Gottes absolut, stösst die sittliche Ordnung um und handelt gegen die Liebe.«Dieser Gott wird ein Gott für ihn allein, und dieser Gott stellt ihn gegen die Welt», schreibt Safranski. 

Abraham und Don Quijote

Kafka erzählt von einem anderen Abraham. Einem, der nicht glauben kann, dass tatsächlich er gemeint ist, und Angst hat, zur Witzfigur zu werden wie Don Quijote, der im eigenen Narrativ gefangen gegen Windmühlen kämpft. Dieser Abraham  beeindruckt nicht mit der Unerschütterlichkeit seines Glaubens. Vielmehr fragt er sich, ob er etwas falsch verstanden hat, er befürchtet, «die Welt werde sich bei seinem Anblick totlachen», wenn er mit dem Sohn zum Opferaltar reitet.

Franz Kafka bewegt sich in den Zwischenräumen des Glaubens, hadert, sucht Halt, zweifelt. Und stets versucht er, einen Fuss hineinzubekommen, damit die Tür zur Trans­zendenz nicht zufällt. 

Rüdiger Safranski: Kafka. Um sein Leben schreiben. Hanser, 2024, 256 Seiten