Das blinde Auge vieler Bibeldeuter

Theologie

Im Umgang mit biblischen Geschichten fehlt es teils noch immer an der Bereitschaft, die darin vorkommenden Frauengestalten aus dem Schatten der Männer hervorzuholen.

«Sie ist der Grund, weshalb sich der sonst so untadelige König David vor Gott in ein ungünstiges Licht rückte: Batseba, die Frau des Kriegers Urija.» Mit diesem Satz stieg ich im Juli in einen kleinen bibelkundlichen Artikel über Batseba ein. Batseba war die Frau, die von König David ihrer grossen Schönheit wegen in sein Bett befohlen wurde, während ihr angetrauter Mann auf dem Schlachtfeld weilte. Später schickte David den Ehemann in den Tod, um Batseba ganz für sich zu haben.
Mit meinem Einstiegssatz war ich, ohne mir dessen bewusst zu sein, in eine Falle getappt. In die Falle des traditionell geprägten Bibellesers, der seinen Blick auf die männlichen «Hauptgestalten» richtet und das Geschehen aus deren Sicht auslegt und kommentiert.

Gabriela Allemann ist Theologin und Präsidentin der femmes protestantes, früher Evangelische Frauen Schweiz. Sie hat sich vertieft mit biblischen Frauengestalten auseinandergesetzt. Und insbesondere mit der Frage, wie sich diese aus dem Schatten der Männergestalten hervorholen und in ihrer Bedeutung für die Gegenwart stärken lassen.

Den Blick frei machen

Zunächst: Zwischen den biblischen Texten und einem heutigen Publikum liegen 2000 bis 3000 Jahre. «Die Texte erzählen von den damaligen gesellschaftspolitischen Realitäten. Diese haben sich zum Teil im Lauf der Zeit verändert – zum Teil auch nicht», erklärt Allemann. Es brauche also einen kritischen Blick sowohl auf die Männer- wie auch die Frauengestalten der Bibel. Einen Blick, der Ungerechtigkeiten und Unterdrückung wahrnehme und frage, wie trotz patriarchaler Muster Ermutigung und Befreiung möglich seien.

Klassisch wird die Geschichte von David und Batseba so gedeutet: Batseba ist schön und König David ein Mann, er kann gar nicht anders, als der Schönheit der Frau zu erliegen, die sich ihm, vermutlich nicht freiwillig, hingibt und damit zur Ehebrecherin wird. Dass sich David die schöne Frau nimmt, ist, so die Lesart, im Prinzip in Ordnung. Nicht in Ordnung ist hingegen sein rechtswidriges und heimtückisches Verhalten gegenüber seinem Geschlechtsgenossen Urija.

Aus heutiger Sicht ist eine solche Interpretation nicht mehr haltbar. Die Schuld vor Gott liegt eindeutig bei David, daran lässt bereits die Bibel keinen Zweifel. Und doch interpretierte man während Jahrhunderten die biblischen Geschichten sehr männerzentriert, was die sozialen Normen der westlichen Gesellschaften mitprägte, sogar bis hinein in die Rechtsprechung.

«Rape Culture», so Gabriela Allemann, «beschreibt, wie ganz vieles gesellschaftlich verankert, normalisiert, verharmlost und akzeptiert ist, was mit sexualisierter Gewalt zu tun hat.» Um ein neues Bewusstsein zu schaffen, «braucht es alle, auch Männer, die sich ihrer Verantwortung bewusst werden und das Durchbrechen dieser destruktiven Strukturen mittragen. Die neue Gesetzgebung im Sexualstrafrecht ist ein erster wichtiger Schritt.»

Diplomatin und Prophetin

Hierzu kann auch ein wertschätzender Blick auf die Frauengestalten der Bibel helfen. Diese Frauen entfalten in den Erzählungen oft eine Kraft, die durch die patriarchal geformte Rezeption verschüttet wurde. Zum Beispiel Abigail, die durch kluges Eingreifen ein Blutbad zwischen ihrem Mann und David verhindert und Letzterem in prophetischer Weise eine grosse Karriere als Fürst voraussagt. Oder die namentlich ungenannte «kanaanäische», also nichtjüdische Frau, die Jesus bittet, ihrer Tochter zu helfen: Jesus gibt sich zunächst abweisend, jedoch die Frau bleibt beharrlich – und schafft es, den jüdischen Prediger und Wundertäter mit ihrem festen Glauben zu beeindrucken und umzustimmen. 

«Das sind tatsächlich ermutigende und ermächtigende Geschichten. Die Fähigkeiten und Kompetenzen der Frauen, von denen hier erzählt wird – Diplomatie, Verhandlungsgeschick –, sind von grosser Bedeutung und gehören gerade heute gestärkt», sagt Gabriela Allemann.

Es braucht alle, auch die Männer, um ein neues Bewusstsein für diese Problematik zu schaffen.
Gabriela Allemann, Präsidentin der femmes protestantes

Bei alledem hofft die Präsidentin des nationalen Dachverbands, dass diese Geschichten ein nachhaltiges Bewusstsein für die Geschlechtergerechtigkeit wecken. Leider sei dies noch zu wenig der Fall.

«Es wird zwar etwa zur Kenntnis genommen, dass es Frauen aus dem engen Kreis um Jesus waren, die als Erste von seiner Auferstehung erfuhren, aber trotzdem wird ausschliesslich von den zwölf männlichen Jüngern gesprochen – mit all den Folgen, die eine solche Lesart hatte und hat.»