«Die Evangelien entstanden im Schatten eines Krieges – und zeigen Wege zu Heilung und Hoffnung. Sie sind mehr als historische oder religiöse Texte, sie sind spirituelle Wegweiser», sagt Professorin Luzia Sutter Rehmann. In ihrem Vortrag am 29. Oktober in Neuhausen erläuterte sie, wie die Schriften nach der Zerstörung Jerusalems im Jahr 70 n. Chr. entstanden sind.
«Alle vier Evangelien sind nach diesem Krieg geschrieben worden.» Dabei geht es um existenzielle Fragen: Wie leben, wenn alles zerstört ist? «Die Auferstehung ist eine Antwort, einen Weg zu finden. Markus beginnt mit diesem Blick: ‹Wo anfangen, wenn alles verwüstet ist?› Für die Menschen der damaligen Zeit war diese Frage lebensentscheidend. Die Evangelien boten Orientierung, wie man trotz traumatischer Erfahrungen Zukunft gestalten konnte – und sind gerade heute, angesichts von Kriegen und Krisen weltweit, besonders relevant.»
Gewalt als historische Realität
Die historischen Hintergründe sind brutal. Der Krieg unter Kaiser Nero ab 66 n. Chr. destabilisierte die Region, jüdische Städte und hellenistische Gemeinden gerieten aneinander. «Truppen haben alles verbrannt. Gefangene wurden getötet – nur wenige wurden als Sklaven verkauft. Es war eine Lawine des Schreckens», sagt Sutter Rehmann.
In diesem Kontext setzen die Evangelien an: Die Orte, an denen Grauen geschehen war, werden zu Handlungsräumen der Evangelien. «Jesus geht gezielt zu den Orten des Schmerzes an den See, nach Gerasa, Jericho, Jerusalem. Geografisch macht er Schlenker, die keine logische Reiseroute erkennen lassen. Aber historisch betrachtet führt ihn sein Weg im Markusevangelium dorthin, wo Menschen gelitten haben. Er erscheint nicht in einem weissen Gewand – das ist keine Sonntagsinszenierung. Jesus geht mitten hinein in die Realität des Schmerzes, in die Verwüstung nach dem Krieg.»
