Kultur 03. September 2025, von Christian Saehrendt

Musik als Seelengefährtin eines einsamen Denkers

Kultur

125 Jahre ist es her, dass der Philosoph Friedrich Nietzsche gestorben ist. Der Pfarrerssohn war ein grosser Musikfreund: Diese Kunst hatte für ihn auch eine religiöse Dimension.

Im 19. Jahrhundert war die Oper sehr populär. Laut Friedrich Nietzsche war darin der Protest des Laien gegen eine kalt gewordene Musik zu erkennen, der man wieder eine Seele wünschte: «Ohne jene tiefreligiöse Umstimmung, ohne das Ausklingen des innerlichst erregten Gemüts» würde, so Nietzsche, «die Musik gelehrt» und steril bleiben. 

Letzthin, am 25. August, jährte sich der Todestag des Philosophen Friedrich Nietzsche zum 125. Mal. Der Denker, der aus einer traditionsreichen Pfarrersfamilie stammte, steht vorab für eine radikale religionskritische Haltung («Gott ist tot»). Weniger bekannt ist, dass die Musik eine enorme Bedeutung für diesen provokanten Denker hatte. 

Die Kultivierung der Gefühlswelt, eine authentische Sprache und eine spirituell grundierte Kunstverehrung bildeten in Nietzsches Epoche die Grundlagen der neuen «Kunstreligion». In ihr übertrug sich das spirituell-religiöse Bedürfnis des Bürgertums auf die Künste, vorab auf Oper und Sinfonie. Der Philosoph stellt fest: «Die Kunst erhebt ihr Haupt, wo die Religionen nachlassen. Sie übernimmt eine Menge durch die Religion erzeugter Gefühle und Stimmungen, legt sie an ihr Herz und wird jetzt selbst tiefer, seelenvoller.»

Eine «Sternenfreundschaft» 

Bald polarisierte der Wagnerianismus als neue quasi-religiöse Bewegung die Öffentlichkeit, und der junge Nietzsche schloss sich begeistert an. Er lernte Richard Wagner in Leipzig kennen und besuchte ihn später in seinem Haus bei Luzern insgesamt dreiundzwanzig Mal – es war die Hochphase jener «Sternenfreundschaft», auf die Nietzsche in seinem Buch «Die fröhliche Wissenschaft» anspielte. Er brauchte damals ein Genie, zu dem er aufblicken konnte, und Wagner brauchte einen Intellektuellen, der die Hochwertigkeit seines musikalischen Projekts beglaubigte.

Ohne Musik wäre das Leben ein Irrthum, eine Strapaze, ein Exil.
Friedrich Nietzsche, Philosoph

Der Komponist spannte seine junge Frau Cosima ein, um Nietzsche durch lange Briefe bei Laune zu halten. In einem Brief an Nietzsche bezeichnete sich Wagner selbst als «verhinderten Philologen», während er Nietzsche als «verhinderten Musiker» beschreibt. «Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik» war die erste bedeutende Schrift Nietzsches. Sie enthielt ein Vorwort an Richard Wagner und stellte ihn als möglichen Neubegründer einer der altgriechischen vergleichbaren Kultur dar.

Philologenkarriere ruiniert 

Mit diesem von der philologischen Zunft als unwissenschaftlich abgelehnten Buch hatte Nietzsche jedoch seinen weiteren wissenschaftlichen Werdegang blockiert. Die von Anfang an fragile und mit hohen Erwartungen aufgeladene Freundschaft mit Wagner hielt noch ein paar Jahre und schlug am Ende in erbitterte Feindschaft um. Nietzsche war nun allein, er hatte sich zwischen alle Stühle gesetzt. 

Zeitlebens, wenn auch ohne Systematik, befasste sich Nietzsche mit musiktheoretischen Erörterungen. Auf der praktischen Ebene betätigte er sich von Kindheit an als veritabel talentierter Pianist, ebenso startete er Versuche als autodidakti­scher Komponist. Neben diversen Liedkompositionen seiner Jugendzeit sind seine späteren «Manfred-Meditationen» von Belang, die unter dem Eindruck wagnerscher Musik entstanden. Tatsächlich zeigt sich in Nietzsches Kompositionen wenig Innovatives. Als Musiker blieb er konventionell.

Ein erotisches Surrogat 

Es existieren zahlreiche Bekenntnisse Nietzsches zur Musik – vor allem in seiner Jugend, aber auch in den letzten bewussten Lebensjahren. Was schätzte er letztlich an dieser Kunst besonders? War es der reine Klanggenuss,  ein rein formales, konkretes Musikerleben also? Oder sorgte nicht eher die religiöse Aufladung des Musikhörens für Erhabenheitsgefühle? «Als Musiker ist Nietzsche gewiss generell Romantiker», urteilte der Schweizer Musiker Curt Paul Janz einmal. 

Zu guter Letzt wirkte die Musik auch auf einer dritten Ebene auf Nietzsche ein: auf das Gefühlsleben und erotische Empfinden. Von Nietzsches Liebesleben ist wenig bekannt. Er war zeitlebens ledig geblieben. Es ist durchaus denkbar, dass die Erregung durch Musik bei ihm auch eine erotische Komponente hatte. Einmal notierte Nietzsche für sich privat ein «Ranking», was ihm am meisten Lust bereitet. Platz eins: «musikalische Improvisation in guter Stunde», danach: das Hören bestimmter Stücke von Beethoven und Wagner, drittens: Nachdenken bei Vormittagsspaziergang, als Viertes kommt «Wollust», und damit endet die Liste. 

Nach Ansicht des Germanisten und Nietzsche-Biografen Werner Ross bot das Musikerlebnis für den einsamen Denker auch die Möglichkeit, erotische Gefühle zu sublimieren. So diente ihm das Reich der Musik nicht zuletzt als Überlaufbecken für die mächtigen Hochwasser der Triebe und Gefühle.

«Ohne Musik wäre das Leben ein Irrthum», schrieb Nietzsche einmal. Damit resümierte er, wie stark sein Leben musikalisch geprägt war. Trotzdem wählte er, den Gustav Mahler einen «nicht zustande gekommenen Komponisten» nannte, dann doch das Wort als Berufung – und folgte so dem klassischen Protestantismus.