«Mein Gott hat seinen Engel gesandt und hat den Löwen das Maul verschlossen, und sie haben mir kein Leid getan.» (Daniel 6,23)
Allein durch den Glauben, aber nie allein im Glauben
Was tun, wenn schöne Bibelverse durch den blutigen Kontext verdunkelt werden? Eine Predigt über Daniel in der Löwengrube, politische Rache und reformierte Darius-Momente.
Gut, trägt er sein Schwert: Der Kulturkampf-Zwingli erinnert auch an dunkle Momente in der Reformationsgeschichte. (Foto: Christian Schenk)

Ein durstiges Pflänzchen
Allein aus dem Glauben heraus seien wir gerechtfertigt vor Gott, sagten die Reformatoren. Sola fide. Nicht durch gute Taten und nicht durch besondere Talente.
Was aber, wenn der Glaube an Gott keine «feste Burg» (RG 32) ist, sondern ein zartes, durstiges Pflänzchen? Wenn die Zweifel an meinem Glauben nagen und ihn als frommes Geschwätz entlarven wollen?
Manchmal ist mein Glaube umzingelt wie Daniel in der Löwengrube. Die Löwen reissen ihr Maul auf und schnappen nach dem, was so schwer in Worte zu fassen ist. Denn was ist mein Glaube überhaupt? Ist es dieses unsagbare Gottvertrauen, das mich durch mein Leben begleitet, oder zumindest die Sehnsucht danach, wenn es mir zwischendurch abhandenkommt? Ist es das Wissen um die Weisheit, die in den biblischen Geschichten steckt und die wir für unser Zusammenleben so nötig haben? Oder ist es ganz einfach: meine Zuversicht, meine Hoffnung, mein Glaube an Jesus Christus? Oder reicht es schon, wenn ich pünktlich meine Kirchensteuern zahle?
Von Löwen umzingelt
Daniel stellt sich solche Fragen nicht. Sein Glaube steht felsenfest und lässt sich vom Löwengebrüll nicht erschüttern. Eifersüchtige Konkurrenten hatten den König Darius dazu verleitet, ein irres, ausgerechnet auf seinen Liebling zugeschnittenes Gesetz in Kraft zu setzen: Wer «innerhalb von dreissig Tagen von irgendeinem Gott oder Menschen etwas erbittet» (Daniel 6,13), ausser vom König selbst, soll den Löwen zum Frass vorgeworfen werden. Natürlich wird der fromme Daniel sogleich auf frischer Tat ertappt, denn dreimal am Tag verrichtet er sein Gebet. Darius versucht noch, Daniel vor dem Tod zu bewahren, doch um seine königlicheGlaubwürdigkeit zu retten, muss er das Urteil vollstrecken.
Seine Treue zu Gott wird für Daniel lebensgefährlich. Und für ihren Glauben riskieren bis heute viele Menschen ihr Leben. Weltweit werden Menschen aufgrund ihres Glaubens diskriminiert, verfolgt, getötet. Ob Christen und Jesiden im Nordirak, Muslime beim Anschlag von Christchurch oder die Opfer des Anschlags in der Kathedrale von Nizza. Für viele Gläubige sind die Löwen keine Metaphern für den Zweifel, sondern real existierende Milizen und Terroristen, mit Messern bewaffnete Fanatiker.
Aus Dankbarkeit erwächst Solidarität
Meine glaubenszweifelnden Fragezeichen erscheinen im Vergleich dazu luxuriöse Wohlstandsprobleme. Natürlich lösen sie sich deswegen nicht in Luft auf. Aber das Bewusstsein, dass zahlreiche Menschen für ihren Glauben bis heute ihr Leben riskieren, ist ein guter Grund zur Demut und zur Dankbarkeit, dass wir hier in Freiheit glauben und zweifeln dürfen. Eine Freiheit, die sich freilich zurzeit als frappierend fragil erweist. Aus der Dankbarkeit erwächst die Solidarität mit Glaubensgeschwistern.
Zum Beispiel durch die finanzielle Unterstützung des Hilfsprogramms für bedrängte und verfolgte Christinnen und Christen im Nahen Osten, das die Zürcher Landeskirche 2009 lanciert hat. Mich beeindruckt, wie das kleine Hilfswerk Capni Christen darin unterstützt, in der Ninive-Ebene auszuharren, auf dass in der Wiege des Christentums christliches Leben möglich bleibt. Oder wie Mission 21 nicht nur Partnerkirchen unterstützt, sondern mit zahlreichen Projekten auch Frieden und Verständigung zwischen den Religionen zu fördern versucht. Und in Hongkong ist die Demokratiebewegung massgeblich durch Christinnen und Christen geprägt. Ein Kirchenlied ist zur Hymne des Protests gegen staatliche Repression geworden.
Kirche ist immer virtuell
Kirche – und das ist uns in diesen Zeiten der physischen Distanz, der Grenzwerte für Gottesdienstbesuche und der Absage vieler Veranstaltungen wieder stärker bewusst geworden – Kirche ist immer auch virtuell. Im Gottesdienst und im Gebet weiss ich mich verbunden mit allen Menschen auf dieser Welt, die in der christlichen Botschaft Halt finden. Deshalb sind Gottesdienste auch dann virtuell, wenn sie nicht im Internet übertragen werden. Die Musik und die Gebete, die an diesen Kirchenmauern wiederhallen, überwinden die Grenzen zwischen Konfessionen und Generationen, Nationen und Zeiten.
Sola fide bedeutet nicht, allein glauben zu müssen. Vielmehr braucht mein Glaube die Gemeinschaft. Mein Glaube braucht den Kirchenraum, in den Glaubensgeschichten eingeschrieben sind. Ich bin darauf angewiesen, dass andere Worte finden, wenn ich verstumme, dass andere für mich beten, wenn meine eigenen Gebete schal und leer klingen. Und ich brauche überlieferte Gebete und Lieder, an denen ich mich festhalten kann. Einmal sind sie unverständlich fern, dann wieder ganz nah und berührend.
«Von guten Mächten wunderbar geborgen», das Unservater, «Vom Afang bis zum Änd» aus der Sonntagsschule: Lieder, Bibeltexte und Gebete sind Wortschätze, die mehr bedeuten als sie sagen. Manchmal verschliessen sie sich mir, um sich mir dann plötzlich unverhofft zu öffnen und meinen Glauben zu nähren. Allein bin ich mit meinem Christentum verloren. Ohne Kirche ist mein Glaube verloren.
Die gesprengte Metapher
Auch Daniel blieb nicht allein in der Grube.
«Mein Gott hat seinen Engel gesandt und hat den Löwen das Maul verschlossen, und sie haben mir kein Leid getan.» (Daniel 6,23)
So berichtet er es dem König, der ihn in der Morgendämmerung besorgt aufsucht.
Engelsmomente, die meinen Glauben vor den gefrässigen Zweifeln beschützen, sind immer ein Geschenk.
In der Geschichte von Daniel geht es freilich weniger poetisch weiter. Daniel wird zwar unverletzt aus der Grube geborgen, doch ohne Blutvergiessen geht es trotzdem nicht. Nun lässt der König die Männer, die sich gegen Daniel verschworen hatten, in die Grube werfen. Auch ihre Frauen und Kinder werden den Löwen zum Frass vorgeworfen. «Und sie waren noch nicht auf dem Boden der Grube aufgeschlagen, da waren die Löwen schon über sie hergefallen und hatten ihnen alle Knochen zermalmt» (Daniel 6,25), so lesen wir in der Bibel. Jetzt ist es plötzlich vorbei mit der friedlichen Engelsstimmung. Die Metapher wird gesprengt durch die Glut der Rache, die gleich noch Frauen und Kinder verzehrt.
Plötzlich fliesst Blut
Ach Gott. Jetzt dachte ich, ich hätte einen so schönen Predigttext. Mit Löwen und Engeln und einem unverletzten Daniel. Aber kaum lese ich den Kontext, fliesst Blut. So ergeht es mir gar nicht so selten, wenn ich die Tageslosung der Herrnhuter Gemeine lese. Die Losungstexte, die Christinnen und Christen seit bald 300 Jahren täglich ansprechen und irritieren, aufrütteln und trösten, sind übrigens auch ein Instrument der virtuellen Kirche. Wer die Losung liest, stellt sich in eine Tradition und in eine Gemeinschaft. Manchmal passiert es, dass ich einen Losungstext lese und dann in der Bibel blättere. Isoliert klang die Losung friedlich und erbaulich. Der Zusammenhang ist es nicht. Es geht um Konkurrenz und Abgrenzung, Verfolgung und Gewalt.
Was mache ich in diesen Momenten? Isoliere ich den schönen Satz, der gut unter ein Kalenderbild mit Waldweg im Herbstlicht passen würde? Oder mache ich das, was wir mit Vorliebe tun, wenn wir alttestamentliche Texte lesen? Wir sagen: Das ist halt so im Alten Testament, da geht es zuweilen etwas archaisch und blutig zu und her. Aber zum Glück haben wir ja das Neue Testament mit der gewaltfreien Botschaft Jesu, die uns abhebt vom Gewaltpotenzial anderer Religionen.
Das jüdische Erbe
Einerseits halte ich es für legitim, die Worte isoliert herauszugreifen und sich von ihnen ansprechen und inspirieren zu lassen. Der Satz erzählt seine eigene Geschichte. Beim Lesen der Bibel treten mir immer wieder einzelne Sätze entgegen, die mich begleiten und ermutigen. Je nach Lebensphase sind es unterschiedliche Sätze.
Andererseits können wir den Kontext nicht auf die Seite schieben und uns schon gar nicht vom Alten Testament distanzieren. Insbesondere die Zürcher Reformatoren haben das Alte Testament als Fundament des Glaubens neu entdeckt. Es ist ein Vermächtnis, dem wir Sorge tragen sollten.
«Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deinem ganzen Verstand, und deinen Nächsten wie dich selbst» (Lukas 10,27). Dem dieser Schlüsselsatz im Lukasevangelium zugeschrieben wird, ist ein jüdischer Gesetzeslehrer. Der Rabbiner antwortet auf die Frage Jesu, was denn im Gesetz stehe. Es folgt das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter. Das Doppelgebot der Liebe ist keine christliche Erfindung, sondern der Kern des Alten Testaments und somit jüdisches Erbe.
Teil einer Gewaltgeschichte
Aber Moment einmal: War das jetzt nicht ein Ablenkungsmanöver? Wie geht das Doppelgebot der Liebe zusammen mit den Männern, den Frauen und den Kindern, die von den Löwen zerfleischt werden? Zuerst müssen wir genau lesen. Es ist König Darius, der den erbarmungslosen Befehl erlässt mit dem Ziel, «dass man vor dem Gott Daniels zittere und sich fürchte» (Daniel 6,27).
Auch durch diese Zeilen schimmert eine bedrohliche Aktualität. Viele Herrscher statuieren bis heute blutige Exempel, um ihre Herrschaft und Glaubenssysteme, die heute oft ganz ohne Gott auskommen, zu festigen. Auch davon erzählt die Bibel. Sie ruft uns in Erinnerung, dass, wer Kirche ist, eben auch Teil einer Geschichte ist, die von Irrtümern, Rachefantasien und Gewalt erzählt.
Sich gegen Texte wehren
Vielleicht ist der aus der zeitlichen Distanz hervorgegangene Sinn dieser Erzählung von den unschuldigen Frauen und Kindern, über welche die Löwen herfallen, dass sie uns schockiert. Der König Darius kriecht den Verschwörern zuerst auf den Leim und beschliesst ein Gesetz, das an Eitelkeit kaum zu überbieten ist. Für seine politische Glaubwürdigkeit ist er bereit, den unschuldigen Daniel zu opfern. Als er seinen Fehler einsieht, vollzieht er eine brutale Kehrtwende und geht erbarmungslos gegen die Verschwörer vor.
Kommt uns das nicht irgendwie bekannt vor? Vielleicht bestehen die Wucht und die Aktualität solcher Geschichten aus dem Alten Testament ja gerade darin, dass wir uns intuitiv gegen sie wehren. Auf dass wir laut aufschreien, wenn ein Darius auf dieser Welt meint, durch Rache Gott einen Dienst zu tun.
Die Limmat als Löwengrube
Der eigenen Geschichte stellt sich nicht, wer sie eliminiert und Denkmäler entsorgt. Der eigenen Geschichte stellen wir uns, indem wir uns von ihr beschämen lassen und aus vergangenen Fehlern lernen. Ich habe die Friedensarbeit von Mission 21 erwähnt. Das Werk verschweigt nicht, Teil der kolonialistischen Geschichte gewesen zu sein. Christliche Missionare waren allzu oft Steigbügelhalter der Kolonialisten. Aber Gott sei Dank, haben die kirchlichen Hilfswerke ihre Lektion verstanden und engagieren sich heute glaubwürdig gegen Ausbeutung von Menschen und Natur sowie für Fairness in der globalen Wirtschaft.
Die Geschichte von Hilfswerken und Kirchen ist nicht frei von dunklen Flecken. Auch die Reformationsgeschichte nicht. Wir wissen um die Darius-Momente, als die Täufer in die Limmat statt in die Löwengrube geworfen wurden. Daran sollten wir gerade heute, am Reformationssonntag, denken. Deshalb ist es vielleicht gar nicht so verkehrt, dass der Kulturkampf-Zwingli bei der Wasserkirche weiterhin sein Schwert trägt.
Als Mahnung an uns, dass wir unsere Schwerter beiseitelegen und das Verbindende zwischen den Konfessionen und Religionen betonen. Vielleicht hilft uns ja der statistische Fakt, dass die reformierte Kirche nur noch eine Minderheit unter anderen Minderheiten ist im multireligiösen Zürich und wir uns einen abgrenzenden Konfessionalismus schlicht nicht mehr leisten können, wenn die christlichen Kirchen weiterhin gehört werden sollen.
Das Gebrüll der Löwen übertönen
Sola fide. Allein durch den Glauben. Immer mehr gilt auch: ein Glaube. Ein Glaube in unterschiedlicher konfessioneller Ausprägung und mit einer eigenen Geschichte. Aber eben vor allem: ein christlicher Glaube.
Der Glaube und die Kirche haben immer wieder die Engel Gottes nötig, die das Gebrüll der Löwen übertönen. Die Zuversicht schenken und die nötige Gelassenheit. Auf dass wir nicht auf sinkende Mitgliederzahlen starren wie auf gefährliche Löwen, sondern darauf vertrauen, dass eine Kirche, die kleiner wird, dennoch relevant bleiben kann für diese Stadt, diese Gesellschaft und diese Welt.
Natürlich müssen wir darüber streiten, welche strukturellen Anpassungen es braucht, ob Fusionen oder Alleingänge die richtigen Antworten sind. Aber die zivilgesellschaftliche Bedeutung der Kirche und die Dringlichkeit der christlichen Botschaft ist keine mathematische Frage. Sie ist eine Glaubensfrage.
Den Rächern ins Schwert fallen
Und ich glaube, die Welt hat die Engel Gottes nötiger denn je. Engel, die Unterdrückte aus den Klauen der mächtigen Löwen befreien und Hungernde vor nimmersatten Löwen schützen. Engel, die den Rächern ins Schwert fallen und den Kreislauf der Gewalt durchbrechen.
Engel, die von einem Gott erzählen, vor dem wir nicht furchtsam erzittern müssen. Engel, die uns Worte finden lassen, um unseren Glauben zu stärken. Und Engel, die uns Gottes Gegenwart spüren lassen. Gott, der uns mit seiner Liebe umfängt und uns befähigt, von dieser Liebe weiterzugeben.
Amen.
Zum Reformationssonntag
Auf Einladung von Pfarrer Christoph Ammann predigte Felix Reich am 1. November in der Kirche Witikon. Der erste Sonntag im November gilt in der Schweiz als Reformationssonntag.