Meinung 30. März 2022, von Felix Reich

Den Menschen dienen, ohne sich zu verbiegen

Kommentar

Indem sie sich dem Wunsch nach individuellen Ritualen öffnet, geht die Aargauer Landeskirche den richtigen Weg. Aber sie muss aufpassen, dass er nicht in die Beliebigkeit führt.

Statt den Traditionsabbruch zu beklagen und in Lethargie zu verfallen, stellt sich die Aargauer Landeskirche auf dem Markt der Rituale der säkularen und patchworkreligiösen Konkurrenz. 

Damit sendet sie ein Signal über die Kantonsgrenzen hinaus, das ihr hoch anzurechnen ist. Will die Kirche ihren Anspruch einlösen, nahe bei den Menschen zu sein, muss sie bereit sein, ihre Rituale und Sprache zu hinterfragen. Freilich ist sie dennoch keine beliebige Ritualagentur. Die reformierte Kirche steht auf dem Boden der christlichen Kirchengemeinschaft und der evangelischen Theologie. Kappt sie ihre Wurzeln, verliert sie Halt und Glaubwürdigkeit.

Dieser Gefahr ist sich die Aargauer Kirche bewusst. Das Segensobligatorium, das sie ihren Pfarrerinnen und Pfarrern vorschreibt, ist jedoch ein hilfloser Versuch, Bruchstücke der reformierten Liturgie in die Zeit der individualisierten Spiritualität zu retten.

Die Schatztruhe öffnen

Wichtiger als starre Vorgaben ist die Frage, wo das Wunschkonzert aufhört. So mag der Einbruch bei der Anzahl Taufen in den letzten Jahren noch so dramatisch sein, die Taufe bleibt ein Sakrament, das die Zugehörigkeit des Kindes zur Kirche Jesu Christi bezeugt. Ein von einer Pfarrerin gestaltetes Ritual zur Geburt eines Kindes kann eine Alternative sein, nicht aber ein Ersatz.

«Du hast meine Füsse auf weiten Raum gestellt» (Ps 31,9). Der beliebte Taufspruch gilt auch für die Kirche selbst. Eine Kirche, die im Evangelium verankert ist, lässt getrost unterschiedliche Formen zu, weil sie weiss, dass der Inhalt entscheidend ist. Und sie darf darauf vertrauen, dass Gott präsent ist, selbst wenn er nicht explizit angesprochen wird.

In einem Umfeld, in dem sich religiöse Traditionen zusehends verflüchtigen und vermischen, gelingt es der Kirche so vielleicht sogar, dass Menschen biblische Texte und Geschichten, in denen Gott viele Namen hat, neu entdecken.