Recherche 30. März 2022, von Anouk Holthuizen

Die Kirche probiert neue Ritualformen aus

Kasualien

Zunehmend haben Menschen den Wunsch, Lebensübergänge nicht in explizit kirchlichem Rahmen zu zelebrieren. Die Reformierte Kirche Aargau kommt diesem Bedürfnis entgegen. 

Jahrhundertelang waren Pfarrerinnen und Pfarrer in Christengemeinschaften die wichtigsten Personen, wenn es darum ging, Übergänge im Leben wie Geburt, Heirat und Tod mit Ritualen zu begleiten. Die Nachfrage nach ihren Diensten ist allerdings massiv gesunken. Fanden zum Beispiel im Jahr 2000 noch 19 048 evangelisch-reformierte Tauffeiernstatt, waren es 2021 nur noch 6326. Bei den Bestattungen sank die Zahl von 29 172 auf 21 351. Wer heute einen Ritualbegleiter wünscht, sucht oft jemanden, in dessen Sprache der Begriff «Gott» nicht vorkommt. Mit dem kirchlichen Vokabular können viele nichts mehr anfangen – darunter manche Kirchenmitglieder.  

Die Reformierte Kirche Aargau möchte nicht mehr tatenlos zusehen. Ab März bieten auf der Website Leben-feiern.ch Pfarrerinnen und Pfarrer kirchliche Handlungen an, dazu aber auch frei gestaltete Rituale: beispielsweise für den Abschied von einem Tier oder für eine Scheidung. Eine kirchliche Sprache müssen sie nicht anwenden, aber alle sind sie verpflichtet, einen Segen zu spenden.

Dem Segen verpflichtet

Die Plattform geht auf die Initiative von Monika Thut, Pfarrerin und Mitarbeiterin der Fachstelle Kirchlicher Religionsunterricht, zurück. Sie führt öfter Rituale ausserhalb des klassischen Rahmens durch, hat zum Beispiel eine Urne bei den Angehörigen daheim platziert oder ein Haus gesegnet. Zuweilen nimmt sie dabei den Begriff «Gott» kein einziges Mal in den Mund. Sie sagt: «Mit Ritualen gebe ich Ausdrucksmöglichkeiten für tiefe Gefühle, Sehnsüchte und Dankbarkeiten. Dabei möchte ich keine Irritationen auslösen, folglich passe ich meine Sprache den Bedürfnissen an.» Sie findet nicht, dass sie ihre Rolle als Pfarrerin damit verleugnet. «Meine Hauptaufgabe sehe ich in der Seelsorge, nicht in der Verkündigung.»

Als Thut sich überlegte, auf einer eigenen Website Rituale anzubieten, wollte sie wissen, was die Landeskirche davon hält. Dort stiess ihr Anliegen auf offene Ohren. «Die freiere Gestaltung von Ritualen ist für einige Pfarrerinnen und Pfarrer ein Thema», erklärt Frank Worbs,Kommunikationsleiter der Reformierten Kirche Aargau.  

Plattform für Rituale auch in Bern

Auch eine Gruppe Stadtberner Pfarrerinnen und Pfarrer lanciert im März eine Ritualagentur. Die Internetplattform soll nicht in erster Linie eine breitere Palette von Ritualen anbieten, sondern vor allem helfen, eine Pfarrperson für die Taufe, Heirat oder Beerdigung zu finden. «Wer unsere Dienste wünscht, weiss oft nicht, wohin er sich wenden muss», sagt Mitinitiant Christian Walti. «Die Websites der Kirchgemeinden bieten zu wenig Orientierung.» Mitglieder der Kirche wüssten oft nicht mal, dass sie diese gratis nutzen dürfen. Rund die Hälfte seiner Klienten kämen zudem aus anderen Kirchgemeinden, was er jeweils unbürokratisch bearbeite. Die Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn begrüssen die Gründungeines Vereins, eine Plattform im Namen der Landeskirche lehnen sie aber ab. 

Auf besagter Website präsentieren sich nun 15 von ihnen. Alle unterschrieben eine Vereinbarung, die festhält, dass sie wählbare Pfarrer sind, nicht missionieren und eine moderne Sprache anwenden. ImGrundsatz können alle Aargauer Pfarrer ihre Ritualdienste auf der Website anbieten. Für Mitglieder der Reformierten Kirche Aargau sind ihre Dienste gratis, alle anderen bezahlen einen Beitrag, der gemäss Worbs mit den Ansätzen auf dem freien Markt vergleichbar ist. «Dieses Angebot ist für die Kirche ein Novum», sagt er, «aber wir machen nichts, was der christlichen Weltanschauung widerspricht.» 

Schön und schwierig

Andrea Marco Bianca begrüsst die neue Plattform als einen Versuch, näher an die Bedürfnisse von Menschen heranzutreten. Der Zürcher Kirchenrat ist Fachperson für Rituale und hat soeben die Broschüre «Kirchliche Handlungen – nahe bei den Menschen» mit herausgegeben. Seiner Meinung nach müsste aber jede Pfarrperson auf einer solchen Website stehen. «Grundsätzlich sollten alle Pfarrpersonen auf die Bedürfnisse ihres Gegenübers eingehen und ein entsprechendes Ritual gestalten können.»

Nach seiner Erfahrung glaubten viele Menschen, die sich ein Ritual wünschten, an eine Form von höherer Macht, aber nicht in biblischer Sprache. Diesen Glauben zu entdecken und in passenden Worten auszudrücken, sei für Pfarrpersonen die schönste und auch schwierigste Aufgabe. Hinter einen Punkt des Aargauer Angebots setzt Theologe Bianca ein Fragezeichen: die Pflicht, einen Segen auszusprechen. «In einem Ritual schaffen Pfarrer sowieso eine Verbindung zum Transzendenten. Deshalb könnte man den Segen auch gleich weglassen.» Sich auf einen einzigen biblischen Begriff festzulegen, dünkt ihn oberflächlich. Dennoch ist er überzeugt: «Die Plattform ist ein wichtiger Anstoss, die aktuelle Situation nicht länger hinzunehmen, sondern neu zu denken.