Von der Kraft des Lächelns

Schlusspunkt

Nicht nur die militärische, auch die soziale Verteidigung will geübt werden. Velofahren im städtischen Verkehrsgedränge eignet sich dafür bestens. 

Wenn ich in diesen Tagen auf dem Velo durch Zürich fahre und erlebe, wie hoch das Aggressionspotenzial mancher Verkehrsteilnehmer zuweilen ist, muss ich an eine Episode denken, die der deutsche Philosoph und Pazifist Olaf Müller kürzlich in der TV-Sendung «Sternstunde Philosophie» erzählte. Es ging um Aufrüstung und Frieden, und Müller regte an, nicht nur die militärische, sondern auch die soziale Verteidigung zu trainieren. Sich angesichts eines bewaffneten Gegners schutzlos und kompromissbereit zu zeigen, könne deeskalierend wirken und Opfer reduzieren.

Als Beispiel nannte Müller die ukrainische Kleinstadt Slawutytsch, die am 26. März 2022 von der russischen Armee belagert worden war. Statt bewaffneten Widerstand zu leisten, organisierten sich die Menschen: Sie gingen demonstrierend auf die Strassen, sangen ukrainische Lieder und lächelten die russischen Soldaten an. Dank ihrer Zusage, keine Waffengewalt anzuwenden, erreichten sie, dass der gefangen genommene Bürgermeister wieder freikam. Ein paar Tage später zogen die Truppen aus geopolitischen Gründen weiter. In den Tagen der Besatzung hatte es keine Folter, keine Opfer und keine Morde gegeben. 

Defensiv statt aggressiv

Die Geschichte fasziniert mich, weil sie eine moderne Interpretation von Matthäus 5,39 ist: «Ich aber sage euch: Leistet dem, der Böses tut, keinen Widerstand! Nein! Wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halte ihm auch die andere hin.» Natürlich kann der Zürcher Strassenverkehr nicht mit einem Kriegsgebiet verglichen werden. Trotzdem scheint mir, dass Fahrradfahren im städtischen Verkehrsgedränge eine gute Übung in sozialer Verteidigung ist.

Als Velofahrerin ist mir bewusst, wie verletzlich ich zwischen Trams und motorisiertem Verkehr bin. Mich auf eine Konfrontation mit rüden Autofahrern einzulassen, wäre dumm und könnte tödlich enden. Stattdessen suche ich den Blickkontakt, um sicherzugehen, dass ich gesehen werde, fahre defensiv statt aggressiv und mit einem freundlichen Lächeln auf dem Gesicht. Das ist keine grosse Sache, denn Velofahren macht gute Laune.

Natürlich träume ich manchmal von einer autofreien Stadt. Oder von Verhältnissen wie in Holland, wo es für Fahrräder überall durchgängige und sichere Wege gibt. Bis dahin übe ich Kompromissbereitschaft – und freue mich, dass wir immer mehr sind, die pedalend unterwegs sind.