Gesellschaft 01. April 2024, von Felix Reich

Kämpferin für eine bessere Welt

Geschichte

Vor 150 Jahren wurde Clara Ragaz-Nadig geboren. Die Pazifistin kämpfte für das Frauenstimmrecht in der Schweiz und hinterliess in der internationalen Friedensbewegung tiefe Spuren.

Eine andere Welt ist möglich. Von dieser Überzeugung, die in der Botschaft des Evangeliums gründet, war Clara Ragaz beseelt. Am 30. März wäre sie 150 Jahre alt geworden. Ausstellungen und ein Jubiläumsprogramm machen auf ihr Leben und Werk aufmerksam und befassen sich mit ihrer Wirkungsgeschichte.

Verstaubte Witze

Hörbar wird diese Haltung etwa in einem Vortrag, den Ragaz im Mai 1915 hielt. An der Generalversammlung des Verbands für das Frauenstimmrecht anerkannte sie die Opferbereitschaft der Frauen in Kriegszeiten, doch sie appellierte an deren Verantwortung: «Sie haben es geleistet für den Krieg, nicht gegen den Krieg.» Es gelte, sich von der Prämisse zu befreien, «die Welt, wie sie die Männer für uns und für sich eingerichtet haben, sei die einzige zu Recht bestehende».

Die politische Unmündigkeit der Frauen erkannte Ragaz als Skandal. Entsprechend empört war sie, als im Februar 1920 die Männer in den Kantonen Zürich und Basel-Stadt ihnen die Initiative für ein Frauenstimmrecht ablehnten. «Wir sind tief betrübt, dass der Geist der Demokratie eine so schmähliche Niederlage erlitten hat», erklärte sie. Bereits der Abstimmungskampf sei eine Farce gewesen: «Man schämt sich wirklich, einem Land anzugehören, in dem solch verstaubte, veraltete Ladenhüter von Witzen und Witzeleien aufgetischt werden.»

Kriegsursachen beseitigen

Stark beeinflusst war Ragaz von der Friedensbewegung, die auf die Nobelpreisträgerin der Pazifistin Berta von Suttner (1843–1914) zurückgeht. Trotz einer nationalistischen Kriegseuphorie, die in die Abgründe des Ersten Weltkriegs führte, formierte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Europa eine in die Mitte der Gesellschaft reichende Minderheit. Sie vereinte  Christen, Liberale, Konservative und Sozialisten, die Frieden nicht einfach als Absenz von bewaffneten Konflikten verstanden, sondern die Kriegsursachen beseitigen wollten.

Nur zwei Jahre vor Ausbruch des Weltkriegs organisierten linke Organisationen einen internationalen Friedenskongress in Basel. Neben Gewerkschaften unterstützte auch die reformierte Münstergemeinde die Veranstaltung. Ihr Pfarrer hiess damals Leonhard Ragaz. 

Diakonie in Aussersihl

Mit ihrem Mann verband Clara Ragaz der Glaube, dass sich die Botschaft des Evangeliums auf die politischen Verhältnisse auswirken müsse. Die Lehrerin gab Sonntagsschule, als er Pfarrer in Chur war. Seinen ersten Heiratsantrag hatte sie noch zurückgewiesen, der Verlobung von 1901 ging ein monatelanger Briefwechsel voraus.

1908 zog das Paar mit seinen beiden Kindern von Basel nach Zürich, weil Leonhard Ragaz zum Theologieprofessor an die Universität berufen worden war. Als der Pionier der religiös-sozialen Bewegung mit 53 Jahren seine Stelle aufgab, da er für eine «verbürgerlichte Kirche» keine Pfarrer mehr ausbilden wollte, zügelte er mit seiner Familie an die Gartenhofstrasse 7 im damaligen Arbeiterquartier Aussersihl.

Mit Bildung gegen Armut

Clara Ragaz arbeitete fortan in der in Zürich neu eröffneten Schweizerischen Zentralstelle für Friedensarbeit mit. Während der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs engagierte sie sich für Menschen, die vor den Nationalsozialisten Zuflucht suchten, und richtete eine Auskunftsstelle für Flüchtlinge ein. Neben der Arbeit vor Ort war sie über die Grenzen hinweg vernetzt. 1929 bis 1946 war die überzeugte Pazifistin Vizepräsidentin der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit und leitete die Schweizer Sektion.

Am 7. Oktober 1957 starb Clara Ragaz im Alter von 83 Jahren in Zürich. Die Pädagogin bekämpfte die Armut durch Bildung, bewahrte sich eine Eigenständigkeit im Denken und leistete sowohl diakonische Hilfe vor Ort wie visionäre Arbeit an Tagungen und internationalen Konferenzen. Friede bedeutete für sie immer mehr als die blosse Absenz von Krieg: Er war das Fundament einer friedlichen und gerechteren Welt, die in der Nachfolge von Christus steht.