Nun gibt es ja nicht nur den Presslufthammer der inneren Spaltung, Israel wird auch durch Terrorgruppen und feindlich gesinnte Staaten bedroht. Sehen Sie einen Weg zu einem Frieden, der über einen Waffenstillstand hinausgeht?
Von einem Frieden sind wir weit entfernt. Eine Voraussetzung dafür wäre, einander zuzuhören. Für die palästinensische Seite kann ich nicht sprechen, aber für uns würde das bedeuten, dass wir das Leiden der Menschen in Gaza anerkennen. Und vielleicht sogar akzeptieren, dass es in Ordnung ist, die Staatsgründung Israels aus palästinensischer Optik als Katastrophe, als Nakba, zu bezeichnen. Frieden schliessen zu wollen, verlangt von mir Bereitschaft, mit einer Seite etwas aufbauen zu wollen, mit der ich bisher nicht gesprochen, die ich vorher bekriegt habe.
Eine Auseinandersetzung mit dem Leiden der Menschen in Gaza fand in Israel bisher nicht statt?
Viele Menschen in meinem Umfeld mögen einfach nicht mehr hinsehen. Und laut einer Umfrage stimmen mehr als 60 Prozent der israelischen Bevölkerung der Aussage zu, dass es keine Unschuldigen gibt in Gaza. Das ist schockierend.
Und nicht wirklich überraschend: Schliesslich benutzt die Hamas Zivilisten nicht nur als Schutzschilder, sie kann auch auf breiten Rückhalt zählen in der Bevölkerung.
Ich weigere mich einfach zu glauben, dass ein ganzes Volk wie eine Terrorgruppe denkt. Ich selbst will ja auch nicht, dass die Welt glaubt, alle Israelis seien Faschisten, die sich ihr Land ohne Palästinenser und ohne Vielfalt wünschen.
Wie gelingt es Ihnen, einen differenzierten Blick zu bewahren?
Ich bin gegen Verallgemeinerungen, egal, um welche Gruppe es sich handelt. Knapp die Hälfte der Bevölkerung in Gaza ist unter 18 Jahre alt, das sind also noch Kinder. Sie haben das Recht, in einer Welt aufzuwachsen, in der sie keine Angst haben müssen und in der die Eltern nicht sagen: «Die Bomben hat Israel geworfen.» Sie sollen in einer Welt leben, in der sie nicht lernen zu hassen. Genauso haben israelische Kinder das Recht, ohne Terror aufzuwachsen. Wenn wir aber unsere eigenen Traumata vorschieben, um auf der anderen Seite keine Menschen mehr sehen zu müssen, sind wir gar nicht viel anders als eine Terrorgruppe wie die Hamas, die sagt, alle Israelis müssten ausgelöscht werden.
Wie kann das Zuhören gelingen?
Ich weiss es wirklich nicht. Ich habe den Eindruck, wir werden in Israel zuerst einmal wieder riesige Mauern bauen und versuchen, uns emotional abzuschotten. Auch die Bevölkerung in Gaza wünscht sich bestimmt ein besseres Leben, aber ob sie sich das in Kooperation mit Israel vorstellt, kann ich nicht sagen. Jedenfalls braucht es dafür von Israel mehr als nur die Bereitschaft, die Waffen bis zum nächsten Gegenschlag ruhen zu lassen.
War Israel ein anderes Land, als Sie 2019 hierhergekommen sind?
Nein. Ich habe damals nur nicht die richtigen Fragen gestellt, um das zu erkennen. Ich erinnere mich gut an ein Gespräch mit meiner Schwiegermutter, in dem ich das Ausmass der israelischen Vergeltung nach dem 7. Oktober kritisierte. Sie fragte mich, weshalb sie die andere Seite als Menschen sehen soll, wenn sie doch israelische Zivilisten abgeschlachtet habe wie Tiere. Ich kann diese Argumentation sogar verstehen. Diese Entmenschlichung und die Gleichgültigkeit gegenüber dem Leid der Palästinenserinnen und Palästinenser müssen jedoch schon viel früher angefangen haben.
Auch in Gaza zeigten die Menschen wenig Mitgefühl mit den Geiseln.
Zweifellos brauchen die Palästinenser eine Deradikalisierung und eine Alternative zur Hamas. In Israel benötigen wir aber die Fähigkeit, unsere Fehler einzugestehen, und wir müssen im Krieg begangene Verbrechen benennen. Doch da ist niemand an der Spitze der Armee oder der Politik, der auch nur annähernd dazu bereit wäre.
Im lange währenden Konflikt ging die Empathiefähigkeit verloren?
Die Empathielosigkeit ist bewusst gewählt, die Abschottung des Herzens ist eine Strategie. Hinter einer Mauer aus Trauma glauben die Menschen, es sei besser, gar nicht erst hinzuschauen, wenn die andere Seite leidet. Das ist schrecklich.
Aber auch verständlich.
Natürlich wuchs ich anders auf und musste im Golfkrieg aus Angst vor einem Gasangriff nicht die Fenster mit Klebstreifen abdichten, wie es meine Schwiegermutter erzählt. Oder in der zweiten Intifada, als sie das Haus mit den Kindern immer erst nach einem Anschlag verliess, weil sie dachte, dass es so kurz nacheinander nicht zwei Attentate geben wird. Die Empathielosigkeit ist ein Schutzmechanismus, doch wir müssen uns dagegen wehren.