Gegen die Abschottung des Herzens

Gesellschaft

Sarah Levy schrieb ein Buch über die Zeit nach dem Massaker vom 7. Oktober. Sie sagt, was sie an Israel liebt und wie sie sich gegen die grassierende Empathielosigkeit wehrt. 

Ihre Aufzeichnungen im Buch «Kein anderes Land» beginnen am Tag vor dem Massaker, das die Hamas am 7. Oktober 2023 verübte. Wo steht Israel zwei Jahre später?

Sarah Levy: Am gleichen Punkt. Die Regierung von Benjamin Netanjahu hat die Propagandamaschine angeworfen. Trolls verunglimpfen in den sozialen Medien die Eltern der Geiseln als Verräter, weil sie früh ein Ende des Kriegs gefordert hatten. Das Kabinett hat den Gazakrieg im Nachhinein sogar umbenannt in den «Krieg der Wiederauferstehung».

Warum?

Die Geschichte soll umgeschrieben werden. Mehr als 70 Prozent der Bevölkerung fordert eine Aufarbeitung des Sicherheitsversagens rund um den 7. Oktober, welche auch die Regierung einschliesst.

Sarah Levy

Sarah Levy

Die 1985 geborene Journalistin und Autorin Sarah Levy wanderte vor sechs Jahren von Deutschland nach Israel aus. Seit 2018 koordiniert sie das Projekt Stopantisemitismus.de und ar-
beitet für verschiedene Bildungsinitiativen. Mit ihrer Familie lebt Sarah Levy in der Nähe von Tel Aviv.  

Sarah Levy: Kein anderes Land. Aufzeichnungen aus Israel. Rowohlt, 2025 

Ganz am Ende schreiben Sie erstmals von der «Angst, das hier eventuell nicht zu überleben». Es geht dabei um den Krieg gegen den Iran.

Seit Jahrzehnten werden die Israelis darauf vorbereitet, dass der Krieg gegen das islamische Regime irgendwann kommt. Am ersten Kriegstag sprach man in Netanjahus Partei schon von «Blitzwahlen», so überzeugt war man vom Sieg. Dass diese Regierung ein kriegsmüdes Volk mitten in einem Krieg in den nächsten führt, ohne es ausreichend schützen zu können, löste ein Gefühl der Ohnmacht aus. Wir sassen in unserem Schutzraum und beteten, dass die iranischen Raketen nicht bei uns einschlagen. Der Krieg verschaffte der Regierung dann aber keine Mehrheit in den Umfragen.

Wird unterschätzt, welche Spuren der Irankrieg in der israelischen Gesellschaft hinterlassen hat?

Die komplette Erschöpfung ist zum Normalzustand der israelischen Seele geworden. Das Massaker und die Entführungen vom 7. Oktober, der Gazakrieg sind ja noch nicht bewältigt. Die Suizidrate unter Soldaten ist extrem hoch, hinzu kam das Schicksal der Geiseln. Dass die Regierung die Bevölkerung in einer solchen Situation dieser Bedrohung aussetzte, löste neue Traumata aus.

Fühlen Sie sich sicherer, seit der Gazakrieg mit einem Waffenstillstand geendet hat?

Kriege enden, Regierungen stürzen, aber unsere Nachbarn bleiben unsere Nachbarn. Dazu gehören auch jene, die uns nicht wohlgesinnt sind. Davon lebt ja diese Regierung: von der Bedrohung von aussen und der inneren Spaltung.

Sie sprechen von der Spaltung und zugleich von einer israelischen Seele. Gibt es diese kollektive Identität also trotz der Polarisierung noch?

Das frage ich mich in diesen Tagen ganz besonders. Ende Oktober fanden in Jerusalem riesige Demonstrationen von ultraorthodoxen Juden statt, die dagegen protestierten, dass die Wehrpflicht auch für sie gelten soll. Im Vorfeld der Kundgebung sah ich im Fernsehen eine Diskussion zwischen einem Mann, der viele Monate im Gazakrieg gedient hat, und einem Ultraorthodoxen. Sie stritten darüber, was es bedeutet, ein zionistischer Jude, oder was es heisst, ein Israeli zu sein. Ich fürchte, wir finden immer seltener eine gemeinsame Antwort darauf.

Auch nach dem Krieg nicht?

Für kurze Zeit hat die Erleichterung darüber, dass die lebenden Geiseln freigekommen sind, das Land geeint. Hinter diesem Gefühl konnten sich die meisten Israelis versammeln. Doch wenn ich in die Zukunft schaue, sehe ich keinen gemeinsamen Nenner, vielmehr einen Kulturkampf, der immer heftiger wird.

Israel war schon immer ein Mosaik unterschiedlicher Lebensweisen.

Das stimmt. Die Frage ist nur, wie viel Druck, wie viele Schläge des Presslufthammers der Polarisierung dieses fragile Mosaik noch erträgt, bis es auseinanderbricht. Das ist ja nicht nur das Werk der aktuellen Regierung. Israel hat keine Verfassung, es wurde von Anfang an versäumt, dieses Mosaik zu kitten.

Trotz der politischen Lage sind Sie vor sechs Jahren aus Deutschland nach Israel ausgewandert. Was fasziniert Sie an diesem Land?

Eben gerade diese Vielfalt. Und deshalb geht mir diese Regierungspolitik, welche die Spaltung des Landes vorantreibt, so nahe. Damit nimmt die Regierung mir mein Land und all das, was ich an ihm so mag, weg: diesen Pluralismus, die Mischung aus jüdischen, arabischen, muslimischen und christlichen Identitäten, die irgendwie versuchen, hier zu leben und zu überleben. Das ist das, was ich an Israel liebe. All das, was diese Vielfalt bedroht, sie sogar verteufelt und behauptet, es gäbe nur eine Art, Israeli zu sein, passt nicht zu jenem Land, für das ich mich entschieden habe. Deshalb ist es durchaus etwas Persönliches zwischen mir und Benjamin Netanjahu.

Nun gibt es ja nicht nur den Presslufthammer der inneren Spaltung, Israel wird auch durch Terrorgruppen und feindlich gesinnte Staaten bedroht. Sehen Sie einen Weg zu einem Frieden, der über einen Waffenstillstand hinausgeht?

Von einem Frieden sind wir weit entfernt. Eine Voraussetzung dafür wäre, einander zuzuhören. Für die palästinensische Seite kann ich nicht sprechen, aber für uns würde das bedeuten, dass wir das Leiden der Menschen in Gaza anerkennen. Und vielleicht sogar akzeptieren, dass es in Ordnung ist, die Staatsgründung Israels aus palästinensischer Optik als Katastrophe, als Nakba, zu bezeichnen. Frieden schliessen zu wollen, verlangt von mir Bereitschaft, mit einer Seite etwas aufbauen zu wollen, mit der ich bisher nicht gesprochen, die ich vorher bekriegt habe.

Eine Auseinandersetzung mit dem Leiden der Menschen in Gaza fand in Israel bisher nicht statt?

Viele Menschen in meinem Umfeld mögen einfach nicht mehr hinsehen. Und laut einer Umfrage stimmen mehr als 60 Prozent der israelischen Bevölkerung der Aussage zu, dass es keine Unschuldigen gibt in Gaza. Das ist schockierend.

Und nicht wirklich überraschend: Schliesslich benutzt die Hamas Zivilisten nicht nur als Schutzschilder, sie kann auch auf breiten Rückhalt zählen in der Bevölkerung.

Ich weigere mich einfach zu glauben, dass ein ganzes Volk wie eine Terrorgruppe denkt. Ich selbst will ja auch nicht, dass die Welt glaubt, alle Israelis seien Faschisten, die sich ihr Land ohne Palästinenser und ohne Vielfalt wünschen.

Wie gelingt es Ihnen, einen differenzierten Blick zu bewahren?

Ich bin gegen Verallgemeinerungen, egal, um welche Gruppe es sich handelt. Knapp die Hälfte der Bevölkerung in Gaza ist unter 18 Jahre alt, das sind also noch Kinder. Sie haben das Recht, in einer Welt aufzuwachsen, in der sie keine Angst haben müssen und in der die Eltern nicht sagen: «Die Bomben hat Israel geworfen.» Sie sollen in einer Welt leben, in der sie nicht lernen zu hassen. Genauso haben israelische Kinder das Recht, ohne Terror aufzuwachsen. Wenn wir aber unsere eigenen Traumata vorschieben, um auf der anderen Seite keine Menschen mehr sehen zu müssen, sind wir gar nicht viel anders als eine Terrorgruppe wie die Hamas, die sagt, alle Israelis müssten ausgelöscht werden.

Wie kann das Zuhören gelingen?

Ich weiss es wirklich nicht. Ich habe den Eindruck, wir werden in Israel zuerst einmal wieder riesige Mauern bauen und versuchen, uns emotional abzuschotten. Auch die Bevölkerung in Gaza wünscht sich bestimmt ein besseres Leben, aber ob sie sich das in Kooperation mit Israel vorstellt, kann ich nicht sagen. Jedenfalls braucht es dafür von Israel mehr als nur die Bereitschaft, die Waffen bis zum nächsten Gegenschlag ruhen zu lassen.

War Israel ein anderes Land, als Sie 2019 hierhergekommen sind?

Nein. Ich habe damals nur nicht die richtigen Fragen gestellt, um das zu erkennen. Ich erinnere mich gut an ein Gespräch mit meiner Schwiegermutter, in dem ich das Ausmass der israelischen Vergeltung nach dem 7. Oktober kritisierte. Sie fragte mich, weshalb sie die andere Seite als Menschen sehen soll, wenn sie doch israelische Zivilisten abgeschlachtet habe wie Tiere. Ich kann diese Argumentation sogar verstehen. Diese Entmenschlichung und die Gleichgültigkeit gegenüber dem Leid der Palästinenserinnen und Palästinenser müssen jedoch schon viel früher angefangen haben.

Auch in Gaza zeigten die Menschen wenig Mitgefühl mit den Geiseln.

Zweifellos brauchen die Palästinenser eine Deradikalisierung und eine Alternative zur Hamas. In Israel benötigen wir aber die Fähigkeit, unsere Fehler einzugestehen, und wir müssen im Krieg begangene Verbrechen benennen. Doch da ist niemand an der Spitze der Armee oder der Politik, der auch nur annähernd dazu bereit wäre.

Im lange währenden Konflikt ging die Empathiefähigkeit verloren?

Die Empathielosigkeit ist bewusst gewählt, die Abschottung des Herzens ist eine Strategie. Hinter einer Mauer aus Trauma glauben die Menschen, es sei besser, gar nicht erst hinzuschauen, wenn die andere Seite leidet. Das ist schrecklich.

Aber auch verständlich.

Natürlich wuchs ich anders auf und musste im Golfkrieg aus Angst vor einem Gasangriff nicht die Fenster mit Klebstreifen abdichten, wie es meine Schwiegermutter erzählt. Oder in der zweiten Intifada, als sie das Haus mit den Kindern immer erst nach einem Anschlag verliess, weil sie dachte, dass es so kurz nacheinander nicht zwei Attentate geben wird. Die Empathielosigkeit ist ein Schutzmechanismus, doch wir müssen uns dagegen wehren.

Was hilft gegen das Abstumpfen?

Wir müssen als Nation bereit sein, in die eigenen Abgründe zu blicken und über unseren Schmerz hinauszusehen. Wir müssen aufarbeiten, wie viele Bomben aus einem Gefühl der Rache abgeworfen wurden.

Passiert dies schon in Ansätzen?

In der Gesellschaft ist die Zeit noch nicht reif dafür. Zudem haben wir eine wahnsinnig empathielose Regierung, die nicht bereit ist, etwas zu erschaffen, was den Leuten das Leben erleichtern würde. Die Empathielosigkeit trifft die Geiseln und ihre Familien, die Soldaten, die unter widrigsten Bedingungen wieder und wieder nach Gaza geschickt wurden, und die gesamte Bevölkerung, die den Preis dafür bezahlt.

Trotzdem scheint diese Regierung alternativlos zu sein.

Ich weiss nicht, ob sie ohne Alternative ist. In Israel regiert, wer am besten Koalitionen bauen kann, und Netanjahu ist ein Meister darin. Das Parteiensystem ist zersplittert. Wir haben es seit der Staatsgründung nicht geschafft, als Gesellschaft zusammenzuwachsen.

Und wie stark ist die Opposition?

In der politischen Mitte gibt es zahlreiche Parteien, die sich jedoch kaum voneinander unterscheiden. Keine Führungsfigur kann unterschiedliche Menschen hinter sich vereinen. Und es fehlen die Frauen in der israelischen Politik.

Was macht Ihnen Hoffnung?

Persönlichkeiten wie Einav Zangauker, deren Sohn von der Hamas verschleppt wurde. Mich beeindruckt, wie sie es schafft, trotz alldem, was sie erleiden musste, so zu kämpfen. Inzwischen ist ihr Kind zurückgekehrt, doch sie setzt sich unabhängig von ihrem persönlichen Schicksal weiterhin ein für das, was ihr wichtig ist: dass diese Regierung zur Rechenschaft gezogen und gestürzt wird. All die Menschen, die aus Gaza zurückgekehrt sind, geben mir Hoffnung. 80-Jährige beispielsweise, die verschleppt wurden und nach ihrer Rückkehr sagten, sie müssten jetzt ihren Kibbuz neu aufbauen.

Und mit Blick auf das eigene Kind?

Wie kaum ein anderes Land stellt einen Israel immer wieder vor die Frage, in welchem Umfeld man leben, sein Kind aufwachsen lassen will. Mein Sohn gibt mir Hoffnung. Er schnappt erste englische Wörter auf, versteht Arabisch, redet Deutsch mit mir, sein Hebräisch wird immer besser, seit er im Kindergarten ist. Er wechselt zwischen den Sprachen und erkennt schon, welcher Mensch welche Sprache spricht. Er hat auch Freunde aus ultraorthodoxen und Freunde aus arabischen Familien. Diese Vielfalt wird er hoffentlich als Schatz begreifen.

Ein Mosaik ist ja ein Kunstwerk.

Und wir müssen ihm Sorge tragen. Ich weiss nicht, ob eine so kriegsmüde und traumatisierte Gesellschaft noch dazu in der Lage ist. Aber für mich bleibt dieses wundervolle Mosaik der Identitäten, Wurzeln und Religionen ein Hoffnungszeichen. Als ich hierhergekommen bin, war ich beeindruckt vom Pluralismus und davon, wie offen die Menschen sind und auch über ihre Schwächen sprechen. Ich hoffe, all das ist noch da.