«Wer Leid sieht, soll es benennen dürfen»

Völkerrecht

Der Rat der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz verurteilt Israels Verstösse gegen das Völkerrecht klar. Präsidentin Rita Famos sagt, warum er gerade jetzt das Wort ergreift.

Der Rat der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (EKS) verurteilt in einer Stellungnahme Israels Verstösse gegen das humanitäre Völkerrecht in Gaza deutlich. Was hat ihn dazu veranlasst veranlasst, sich ausgerechnet jetzt zu äussern?

Rita Famos: Die Eskalation der Gewalt, das anhaltende Leid der Zivilbevölkerung im Gazastreifen und die zunehmende Sprachlosigkeit im öffentlichen Diskurs waren für den Rat der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz Anlass, sich erneut zu äussern. Es war uns wichtig, nicht aus einer politischen Perspektive zu sprechen, sondern aus der Verantwortung unseres Glaubens heraus: für das Leben, gegen die Logik der Gewalt.

Die Stellungnahme verurteilt erstmals deutlich das Vorgehen der israelischen Armee. Frühere Stellungnahmen schienen defensiver formuliert.

Als Kirchen sind wir zurückhaltend mit Schuldzuweisungen. Das war auch in früheren Stellungnahmen so. Aber mit Blick auf die humanitäre Katastrophe, wie sie sich in Gaza täglich zuspitzt, wäre Schweigen ein ethisches Versäumnis. Auch für Israel gilt das humanitäre Völkerrecht – und seine Missachtung muss benannt werden dürfen, ohne dass dies mit Antisemitismus gleichgesetzt wird. Es ist Ausdruck unseres christlichen Zeugnisses, dort deutlich zu werden, wo das Leben von Menschen systematisch gefährdet wird. Auch das haben wir in früheren Positionen immer betont. Jetzt spitzen wir diesen Aspekt nochmals zu.

Rita Famos

Pfarrerin Rita Famos ist seit 2021 Präsidentin der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (EKS) und seit 2023 Mitglied im Zentralausschuss des Ökumenischen Rats der Kirchen (ÖRK). Zuvor hat Famos in der reformierten Kirche des Kantons Zürich die Abteilung Spezialseelsorge geleitet. Bereits von 2011 bis 2014 war sie Mitglied der Exekutive des Kirchenbunds, der Vorgängerorganisation der EKS. Gemeinsam mit Önder Günes von der Föderation Islamischer Dachorganisationen in der Schweiz präsidiert sie den Schweizerischen Rat der Religionen.

Der Rat schreibt: «Die Hamas ist nicht Gaza. Und Netanjahu ist nicht Israel. Aber Menschen sterben.» Weshalb müssen solche Tatsachen, die doch eigentlich offensichtlich sind, extra betont werden?

Wir dürfen die Verantwortung nicht kollektivieren. Nicht alle Palästinenser sind Hamas, und nicht alle Israelis unterstützen die aktuelle Regierungspolitik. Wer Leid sieht, soll benennen dürfen, wo es entsteht, ohne moralische oder politische Loyalitätserklärungen abgeben zu müssen. Diese Unterscheidung ist auch eine Schutzschicht gegen vereinfachte Narrative und gegen eine Polarisierung und den Antisemitismus.

Sie warnen damit vor einer Polarisierung, die das Gespräch verunmöglicht?

Ich beobachte eine zunehmende Lagerbildung: Man muss sich zuerst als pro-palästinensisch oder pro-israelisch positionieren, bevor man gehört wird. Die Polarisierung blockiert echtes Mitgefühl. Wahrheit beginnt mit dem Hinschauen: auf das Leid, auf die Verstrickungen, auf die Ohnmacht. Besonders in Kirchen, wo Themen wie Gerechtigkeit, Vergebung und Schuld eine religiöse Tiefenschicht haben, müssen wir Räume schaffen, in denen dieses komplexe Ringen möglich bleibt. Nicht obwohl, sondern weil es schwer ist.

Wie steht der Rat EKS zur Absicht der israelischen Regierung, die humanitäre Hilfe selbst zu organisieren und nicht den UN oder Hilfswerken zu überlassen? Auch die Arbeit des Hilfswerk der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (Heks) würde damit massiv erschwert.

Die Unabhängigkeit humanitärer Hilfe ist ein Grundprinzip des internationalen Rechts. Wenn ein Konfliktakteur zugleich über Zugang, Verteilung und Auswahl entscheidet, untergräbt das die Glaubwürdigkeit und Wirksamkeit der Hilfe. Darunter leidet die Zivilbevölkerung. In diesem Sinn muss das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge, die UNWRA, kritisch beobachtet werden, aber auch die Idee der israelischen Regierung. Wir stehen solidarisch an der Seite unserer Partner wie Heks, die sich seit Jahrzehnten für humanitäre Hilfe und Menschlichkeit vor Ort einsetzen.

Die Schweiz hat den Protest anderer europäischer Staaten gegen die Blockadepolitik der israelischen Regierung nicht mitgetragen. Hält der Rat das Engagement des Bundesrats für ungenügend?

Wir respektieren die komplexe Rolle der Schweiz als neutrale Vermittlerin. Gleichzeitig erwarten wir von der Schweiz eine klare Sprache, wenn es um die Einhaltung des humanitären Völkerrechts geht – unabhängig davon, wer dagegen verstösst. Die Tatsache, dass die Schweiz die jüngste Erklärung zur humanitären Lage nicht mitgetragen hat, ist für viele schwer verständlich. Wir begrüssen jedoch die Stellungnahme des Bundesrates vom 21. Mai, sie deckt sich mit unserer Aufforderung: «Israel ist verpflichtet, die Bestimmungen des Völkerrechts einzuhalten, die ihm als Besatzungsmacht obliegen.» Der Entscheid des Bundesrats fiel zeitlich mit unserem Appell zusammen.

Die Eskalation der Gewalt wird bestimmt auch im Rat der Religionen besprochen. Wäre jetzt nicht eine gemeinsame Erklärung nötig?

Das Thema beschäftigt den Schweizerischen Rat der Religionen tatsächlich seit dem Terroranschlag vom 7. Oktober 2023. Der Dialog ist nicht einfach, aber er bleibt wichtig – gerade jetzt. Der Rat der Religionen trifft sich am 5. Juni zur nächsten Sitzung. Es hat sich gezeigt, dass Stellungnehmen in diesen schwierigen Fragen nicht auf dem Korrespondenzweg gefasst werden können. Uns als EKS ist es wichtig zu betonen: Empathie kennt keine Seite. Es ist möglich, mit Juden zu weinen – und mit Palästinensern. Die Menschenwürde ist unteilbar. 

Der Rat erwähnt die Friedensarbeit, welche die EKS leistet. Wie sieht sie konkret aus?

Wir engagieren uns international in Partnerschaften mit Kirchen im Nahen Osten durch Heks und Mission 21. In der Schweiz fördern wir den interreligiösen Dialog, besonders in angespannten Zeiten. Wir ermutigen unsere Gemeinden, Räume für differenzierte Diskussion und Friedensbildung zu schaffen – sei es in der Bildung, in Veranstaltungen oder in der Diakonie.