Der Rat schreibt: «Die Hamas ist nicht Gaza. Und Netanjahu ist nicht Israel. Aber Menschen sterben.» Weshalb müssen solche Tatsachen, die doch eigentlich offensichtlich sind, extra betont werden?
Wir dürfen die Verantwortung nicht kollektivieren. Nicht alle Palästinenser sind Hamas, und nicht alle Israelis unterstützen die aktuelle Regierungspolitik. Wer Leid sieht, soll benennen dürfen, wo es entsteht, ohne moralische oder politische Loyalitätserklärungen abgeben zu müssen. Diese Unterscheidung ist auch eine Schutzschicht gegen vereinfachte Narrative und gegen eine Polarisierung und den Antisemitismus.
Sie warnen damit vor einer Polarisierung, die das Gespräch verunmöglicht?
Ich beobachte eine zunehmende Lagerbildung: Man muss sich zuerst als pro-palästinensisch oder pro-israelisch positionieren, bevor man gehört wird. Die Polarisierung blockiert echtes Mitgefühl. Wahrheit beginnt mit dem Hinschauen: auf das Leid, auf die Verstrickungen, auf die Ohnmacht. Besonders in Kirchen, wo Themen wie Gerechtigkeit, Vergebung und Schuld eine religiöse Tiefenschicht haben, müssen wir Räume schaffen, in denen dieses komplexe Ringen möglich bleibt. Nicht obwohl, sondern weil es schwer ist.
Wie steht der Rat EKS zur Absicht der israelischen Regierung, die humanitäre Hilfe selbst zu organisieren und nicht den UN oder Hilfswerken zu überlassen? Auch die Arbeit des Hilfswerk der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (Heks) würde damit massiv erschwert.
Die Unabhängigkeit humanitärer Hilfe ist ein Grundprinzip des internationalen Rechts. Wenn ein Konfliktakteur zugleich über Zugang, Verteilung und Auswahl entscheidet, untergräbt das die Glaubwürdigkeit und Wirksamkeit der Hilfe. Darunter leidet die Zivilbevölkerung. In diesem Sinn muss das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge, die UNWRA, kritisch beobachtet werden, aber auch die Idee der israelischen Regierung. Wir stehen solidarisch an der Seite unserer Partner wie Heks, die sich seit Jahrzehnten für humanitäre Hilfe und Menschlichkeit vor Ort einsetzen.
Die Schweiz hat den Protest anderer europäischer Staaten gegen die Blockadepolitik der israelischen Regierung nicht mitgetragen. Hält der Rat das Engagement des Bundesrats für ungenügend?
Wir respektieren die komplexe Rolle der Schweiz als neutrale Vermittlerin. Gleichzeitig erwarten wir von der Schweiz eine klare Sprache, wenn es um die Einhaltung des humanitären Völkerrechts geht – unabhängig davon, wer dagegen verstösst. Die Tatsache, dass die Schweiz die jüngste Erklärung zur humanitären Lage nicht mitgetragen hat, ist für viele schwer verständlich. Wir begrüssen jedoch die Stellungnahme des Bundesrates vom 21. Mai, sie deckt sich mit unserer Aufforderung: «Israel ist verpflichtet, die Bestimmungen des Völkerrechts einzuhalten, die ihm als Besatzungsmacht obliegen.» Der Entscheid des Bundesrats fiel zeitlich mit unserem Appell zusammen.