Gesellschaft 10. Februar 2025, von Mirjam Messerli

Eine syrische Familie zwischen zwei Welten

Gesellschaft

Das Ende des Assad-Regimes beschäftigt die syrische Gemeinschaft in der Schweiz. Familie Khlaf fühlt sich hier längst daheim – der Umsturz wühlt dennoch alle auf. 

Die Geschichte der Familie Khlaf ist eine Geschichte von Flucht. Aber es ist auch eine Geschichte von Mut, Liebe und Widerstandskraft. Drei Menschen erzählen diese Geschichte in einem Wohnzimmer in Bern: Vater Mukhles (64), Mutter Fayruz (60) und der älteste von drei Söhnen, Ghanem Khlaf (36). Sein jüngster Bruder Ward ist bei der Arbeit, der mittlere der drei lebt nicht mehr. Majd starb 2013 im syrischen Bürgerkrieg. Er war 23 Jahre alt. Begraben liegt er in Damaskus, wo Familie Khlaf vor der Flucht gelebt hat. «Wir hatten ein sehr gutes Leben, bevor wir alles zurücklassen mussten», sagt Mukhles: Er arbeitete als Reiseleiter, seine Frau als Lehrerin, die Söhne studierten. 

Fayruz Khlaf schenkt Tee ein und bittet ihren Mann, den Fernseher auszuschalten. Ins Wohnzimmer flimmerten kurz vorher die neusten Nachrichten aus Syrien. 

Nach der Freude die Skepsis 

«Riesige Freude» sei sein erstes Gefühl gewesen, als er vom Sturz Assads gehört habe, sagt Mukhles. «Es war, als krache ein Berg von meiner Brust herunter.» Er erzählt es mit hochdeutschem Akzent. Mukhles hat die Sprache in den 1980er-Jahren gelernt, als er in Deutschland Maschinenbau studierte. 

Ich will nicht wieder einen Regierungschef, der Menschen umgebracht hat!
Mukhles Khlaf

Nach der Euphorie kamen die Zweifel: Mukhles Khlaf sagt, er sei gegenüber dem neuen Machthaber Ahmed al-Sharaa skeptisch. «Auch wenn er den Bart stutzt und einen Anzug trägt, bleibt er ein ehemaliges Al-Kaida-Mitglied.» Eine Inszenierung für den Westen sei das, nur Photoshop. «Ich will nicht wieder einen Regierungschef, der Menschen umgebracht hat!» Mukhles redet sich in Rage, er wird lauter und lauter.

Fayruz versucht, ihren Mann zu beschwichtigen: «Psst! Psst!» Sohn Ghanem muss lachen, schüttelt aber auch den Kopf und sagt: «Das haben wir alle verinnerlicht: Nicht zu laut sein. Aufpassen, wer zuhört.» 

Ghanem Khlaf lebt seit über zehn Jahren in der Schweiz. Er arbeitet als Lehrer, ist mit einer Schweizerin verheiratet und Vater von zwei Söhnen im Kindergarten- und Schulalter. Seine Eltern hatten ihn 2014 in die Schweiz geschickt, etwas später auch seinen Bruder Ward. 

Vom Geheimdienst verhaftet 

Das Haus der Familie stand praktisch an der Frontlinie. Bomben fielen auch auf die Universität, an der Ward studierte. Er überlebte schwer verletzt, zwei seiner Freunde starben vor seinen Augen. «Wir wollten nicht noch einen Sohn verlieren», sagt Mukhles Khlaf. Weil er als Reiseleiter auch Schweizer durch sein Land geführt hatte, nutzte er diese Kontakte. Die Söhne flohen, 2022 folgten die Eltern.
Mukhles war vom Geheimdienst verhaftet und befragt worden. Bei einem Verhör brachen ihm Assads Männer mehrere Finger. «Wir waren in Syrien nicht mehr sicher.» 

Ghanem sieht die Zukunft Syriens weniger pessimistisch als sein Vater. «Ich habe Hoffnung, und ich glaube an die Kraft der syrischen Gemeinschaft.» Er findet auch, dass die neuen Machthaber eine Chance verdient haben. Das sorgt zwischen ihm und seinem Vater immer wieder für hitzige Diskussionen. 

Syrer in der Schweiz

Seit 2011 flüchteten über 13 Millionen Menschen aus Syrien. In der Schweiz  leben rund 28 000 Syrerinnen und Syrer. Welche Folgen der Machtwechsel  in ihrer Heimat für die unterschiedlichen Religionsgruppen haben wird, ist  völlig unklar. Am 8. Dezember 2024 ist Diktator Bashar al-Assad von der  islamistischen HTS und verbündeten Rebellen gestürzt worden. 

Ghanem plädiert dafür, Syrien seinen eigenen Weg gehen zu lassen. «Demokratie, wie wir sie hier in der Schweiz kennen, kann man einem Land mit einer Geschichte wie jener Syriens nicht überstülpen.» Er findet es anmassend, wenn Demokratie nach westlichem Vorbild als einzig richtiges System betrachtet wird. 

Einig sind sich Vater und Sohn, dass die unterschiedlichen Religionsgruppen künftig friedlich zusammenleben könnten. «Das haben sie getan, bis das Assad-Regime Hass gesät hat», sagt Mukhles. Familie Khlaf ist christlich, praktiziert ihren Glauben aber kaum. 

Mukhles ist Co-Präsident des Vereins Syrien-Schweiz. Der Verein will Menschen aus beiden Ländern zusammenbringen und die Kulturen pflegen. Den Umsturz in der Heimat spürt er auch im Verein. «Es kommen mehr Menschen zu uns. Sie sind verunsichert, fragen sich, welche Folgen der Machtwechsel hat.» 

Heimat ist, wo ich respektiert werde und mitwirken kann.
Ghanem Khlaf

Seit dem Umsturz wird Ghanem Khlaf öfter gefragt, ob er denn nun zurück in seine Heimat gehen wolle. Das irritiert ihn. «Ich bin Schweizer, meine Söhne auch», sagt er. «Ich möchte nicht mehr in Syrien leben.» 

Heimat ist für Ghanem nicht dort, wo er geboren worden ist. «Heimat ist, wo ich respektiert werde, arbeiten und an der Gesellschaft mitwirken kann.» Aber er möchte bald nach Syrien reisen. «Ich vermisse das Essen, die Wüste, das Meer – und ich vermisse meinen verstorbenen Bruder», sagt Ghanem.