Syrien ist ein ethnisch und religiös heterogenes Land. Sie haben Syrien noch vor dem Krieg erlebt. Wie nahmen Sie das Zusammenleben der Religionen damals wahr?
Kristin Helberg: Jeder, der mich in Damaskus besuchte, war erstaunt, dass man sowohl den Gebetsruf des Muezzins als auch Kirchenglocken hört. Im Alltag leben die Religionsgemeinschaften oberflächlich betrachtet tolerant und harmonisch miteinander. Menschen verschiedener Konfessionen sind befreundet, gratulieren sich zu jeweiligen Feiertagen. Aber offen über Religion diskutieren durfte man unter Assad nicht. Das hat die Syrer anfällig für Manipulation gemacht, denn man wusste wenig über die anderen, vor allem die Alawiten und Drusen.
Also herrschte ein staatlich verordneter Religionsfriede?
Es ging in erster Linie um Kontrolle. Unter Assad war es egal, woran man glaubte, es zählte einzig die Loyalität zum Regime. Das einende Band war der arabische Nationalismus. Demnach waren die Syrer zuallererst Araber, egal ob es sich nun um Christen, Alawiten, Sunniten oder Drusen handelte. Die Kurden blieben auf der Strecke, da sie eine ethnische Minderheit sind. Versteckte religiöse Ressentiments gab es dennoch, weil Assad Minderheiten instrumentalisierte, um damit seine eigene Macht zu sichern.
Wie hat er das getan?
Indem er behauptete, er würde sie beschützen. Assad schürte seit Beginn des Kriegs vor allem die Angst vor der sunnitischen Mehrheit, die er als potenziell extremistisch und islamistisch darstellte. Das Narrativ war, dass Minderheiten unter ihrer Herrschaft nicht mehr die Freiheiten haben würden wie unter seinem Regime. Der Westen hat dieses Narrativ gern aufgegriffen, weil er dazu neigt, sich andernorts auf Minderheiten zu konzentrieren.
Was ist falsch daran, Minderheiten als Gradmesser zu nehmen?
Als der Islamische Staat (IS) im Sommer 2014 die Christen in Mossul angriff und kurz darauf die Jesiden im Sinjar-Gebirge, war der Aufschrei gross. Doch in Rakka wurden schon zuvor grausame Massaker an Sunniten begangen, das interessierte niemanden. Sprechen westliche Politiker lediglich über den Schutz der Christen, wird das als Doppelmoral wahrgenommen. Sunnitische Araber litten unter Diktatur und Terror genauso, sie stellen die Bevölkerungsmehrheit. Und von den Christen höre ich, dass sie nicht als eine zu schützende Minderheit wahrgenommen werden wollen, sondern als ursprüngliche Bewohnerinnen und Bewohner, die ein neues Syrien mitaufbauen wollen. Der Westen sollte deshalb über die Beteiligung aller Gruppen statt den Schutz einzelner Minderheiten sprechen.