«Unter Assad zählte nur die Loyalität zum Regime»

Perspektiven

Die Nahost-Expertin Kristin Helberg spricht über das Zusammenleben der Religionen in Syrien und die Perspektiven für das Land nach Jahrzehnten der Diktatur. 

Syrien ist ein ethnisch und religiös heterogenes Land. Sie haben Syrien noch vor dem Krieg erlebt. Wie nahmen Sie das Zusammenleben der Religionen damals wahr? 

Kristin Helberg: Jeder, der mich in Damaskus besuchte, war erstaunt, dass man sowohl den Gebetsruf des Muezzins als auch Kirchenglocken hört. Im Alltag leben die Religionsgemeinschaften oberflächlich betrachtet tolerant und harmonisch miteinander. Menschen verschiedener Konfessionen sind befreundet, gratulieren sich zu jeweiligen Feiertagen. Aber offen über Religion diskutieren durfte man unter Assad nicht. Das hat die Syrer anfällig für Manipulation gemacht, denn man wusste wenig über die anderen, vor allem die Alawiten und Drusen.   

Also herrschte ein staatlich verordneter Religionsfriede?   

Es ging in erster Linie um Kontrolle. Unter Assad war es egal, woran man glaubte, es zählte einzig die Loyalität zum Regime. Das einende Band war der arabische Nationalismus. Demnach waren die Syrer zuallererst Araber, egal ob es sich nun um Christen, Alawiten, Sunniten oder Drusen handelte. Die Kurden blieben auf der Strecke, da sie eine ethnische Minderheit sind. Versteckte religiöse Ressentiments gab es dennoch, weil Assad Minderheiten instrumentalisierte, um damit seine eigene Macht zu sichern.  

Wie hat er das getan?   

Indem er behauptete, er würde sie beschützen. Assad schürte seit Beginn des Kriegs vor allem die Angst vor der sunnitischen Mehrheit, die er als potenziell extremistisch und islamistisch darstellte. Das Narrativ war, dass Minderheiten unter ihrer Herrschaft nicht mehr die Freiheiten haben würden wie unter seinem Regime. Der Westen hat dieses Narrativ gern aufgegriffen, weil er dazu neigt, sich andernorts auf Minderheiten zu konzentrieren.   

Was ist falsch daran, Minderheiten als Gradmesser zu nehmen?   

Als der Islamische Staat (IS) im Sommer 2014 die Christen in Mossul angriff und kurz darauf die Jesiden im Sinjar-Gebirge, war der Aufschrei gross. Doch in Rakka wurden schon zuvor grausame Massaker an Sunniten begangen, das interessierte niemanden. Sprechen westliche Politiker lediglich über den Schutz der Christen, wird das als Doppelmoral wahrgenommen. Sunnitische Araber litten unter Diktatur und Terror genauso, sie stellen die Bevölkerungsmehrheit. Und von den Christen höre ich, dass sie nicht als eine zu schützende Minderheit wahrgenommen werden wollen, sondern als ursprüngliche Bewohnerinnen und Bewohner, die ein neues Syrien mitaufbauen wollen. Der Westen sollte deshalb über die Beteiligung aller Gruppen statt den Schutz einzelner Minderheiten sprechen.

Kristin Helberg

Kristin Helberg

Die Nahost-Expertin studierte in Hamburg Politikwissenschaften und Journalistik. Zwischen 2001 und 2008 berichtete sie als freie Journalistin in Damaskus für deutschsprachige Medien. Mittlerweile lebt Kristin Helberg (51) in Berlin. Sie schrieb mehrere Sachbücher, etwa über den Syrien-Krieg und syrische Geflüchtete in Deutschland.

Wie loyal waren Syriens Christen gegenüber Assad?   

Unabhängig von der Religionszugehörigkeit stellte sich für alle Menschen in Syrien die Frage, ob er oder sie für Freiheit auf die Strasse geht und damit sein Leben riskiert. Die Mehrheit von ihnen tat es nicht, aus Angst vor den Konsequenzen. Unter den Mutigen waren Mitglieder aller Religionsgruppen. Doch es ist wichtig, zwischen offiziellen Würdenträgern und den einfachen Gläubigen zu unterscheiden. Jeder, der in Syrien einen offiziellen Posten hatte, war Teil des Machtapparats oder wurde von ihm in irgendeiner Weise benutzt. Jeder Schulleiter, jeder Chef einer Handelskammer, auch die religiösen Vertreter waren abgesegnet vom Geheimdienst.   

Was heisst das konkret?   

Es gibt Hinweise darauf, dass der Geheimdienst auch in Kirchen gespitzelt hat und Gemeindemitglieder verraten wurden. Es gibt Beispiele von getöteten christlichen Aktivisten, deren Angehörige keine Gedenkgottesdienste abhalten durften, weil es sich um «Terroristen» gehandelt habe. Kirchenvertreter haben in Europa immer wieder für das Regime geworben. Mor Ignatius Aphrem II. etwa, der Patriarch von Antiochien der syrisch-orthodoxen Kirche, hat sich offen für Assad ausgesprochen. Die Kirchen müssen ihre Rolle während der letzten Jahrzehnte aufarbeiten. Das ist für die Versöhnungsarbeit zentral.   

Mit der HTS-Miliz hat eine islamistische Kraft mit Wurzeln in Al Kai­da das Regime gestürzt. Was heisst das für den Islam, der in Syrien künftig eine Rolle spielen wird? 

Noch ist das nicht klar. Wir sehen gerade ein Ringen darum, wie islamistisch das neue Syrien sein wird. Mit Sicherheit wird Syrien zunächst keine liberale Demokratie, die die Rechte von Homosexuellen schützt. Das zu erwarten, wäre vermessen, Europa hat selbst Jahrzehnte dafür gebraucht. Auch das Assad-Regime war nicht säkular, laut aktueller Verfassung muss der Präsident Muslim sein, die Scharia ist eine wichtige Rechtsquelle. Ahmed al-Sharaa hat angekündigt, niemandem religiöse Überzeugungen aufzuzwingen. Das Personenstandsrecht soll weiterhin für jede religiöse Gruppe anders geregelt sein. Auch christlichen Religionsunterricht wird es unter den neuen Machthabern geben.

Halten Sie das für glaubwürdig?   

Al-Sharaa ist zumindest bewusst, dass ein Regime wie das der Taliban in Afghanistan für Syrien keine Option ist. Syrien war – anders als das schon geografisch abgeschottete Afghanistan – immer ein Land mit viel Handel, kulturellem Austausch und einer weltoffenen Mentalität. Hinzu kommt die religiös heterogenere Bevölkerung. Der Krieg hat jedoch Spuren hinterlassen, die sich jetzt negativ auswirken könnten.   

Woran denken Sie?

Unklar ist, wie stark die Männer, die für die HTS oder an ihrer Seite gekämpft haben, islamistisch indoktriniert sind. Inwiefern es ihnen um Ideologie oder primär um den Sturz des Regimes ging. Entscheidend ist auch, ob al-Sharaa die Frömmigkeit, wie er sie selbst lebt, als Privatsache versteht oder ob er sein Verständnis vom Islam doch noch auf Staatsebene durchsetzen will. Derzeit scheint die Führung offen für Kritik aus der Gesellschaft zu sein und möglichst viele Menschen in das Projekt miteinbeziehen zu wollen. Ich gehe auch davon aus, dass die Bevölkerung ein weiteres autoritäres Regime nicht einfach akzeptieren wird.   

Inwiefern müsste eine künftige Regierung auch der Heterogenität des Landes Rechnung tragen? 

Ein Quotensystem gilt es unbedingt zu vermeiden. Es funktioniert nicht, wie man im Libanon und anderswo sieht. In Syrien ist es ohnehin schwer machbar, weil die meisten Syrer sunnitische Araber sind. Minderheiten wie Kurden, Christen und Alawiten umfassen nur jeweils etwa zehn bis zwölf Prozent der Bevölkerung. Deshalb braucht es einen Wettbewerb um politische Ideen und nicht eine Machtverteilung entlang konfessioneller oder ethnischer Linien. Es werden Parteien mit verschiedener Ausrichtung entstehen, konservative und linke Parteien, eine liberale Partei und vielleicht auch eine nationalistische Partei.  

In Ihrem Buch «Brennpunkt Syrien» warfen Sie selbst die Frage auf, wie viel Religion eine zukünftige syrische Demokratie ertragen kann. Was ist nun Ihre Antwort?   

Vermutlich wird es laufen wie in allen Ländern des Nahen Ostens nach Jahrzehnten der Diktatur. Die ersten freien Wahlen werden eine islamische Partei an die Macht bringen. Das liegt daran, dass der Begriff säkular dort negativ besetzt ist. Die Leute haben schlechte Erfahrungen mit pseudo-säkularen Herrschern gemacht, die mit mafiösen Methoden den Staat und die Gesellschaft geplündert haben. Denkbar wäre ein wertkonservativer politischer Islam mit einer wirtschaftsliberalen Ausrichtung. Aber Wahlen werden erst in vier Jahren stattfinden. Prognosen sind schwierig. Entscheidend wird für die Menschen in Syrien sein, wie der Übergang gelingen kann.