Politik 20. September 2024, von Annalena Müller/pfarrblattbern.ch

«Wir tragen in Armenien mit Projekten zur Sicherheit bei»

Armenien

Wolfgang Bürgstein, Generalsekretär von Justitia et Pax, und Ex-Diplomat Werner Thut setzen sich für Engagement in Armenien ein. Und bauen auf Entwicklungshilfe als Friedensgarant.

Justitia et Pax – eine Kommission der Bischofskonferenz – hat den Bundesrat in Sachen Armenien zum Handeln aufgefordert. Die Evangelisch-reformierte Kirche Schweiz (EKS) hat sich dem Appell angeschlossen. Worum geht es?

Wolfgang Bürgstein: Nach dem Völkermord von 1915 ist Armenien heute wieder Opfer ethnischer Säuberung, diesmal durch die Vertreibung der armenischen Bevölkerung von Berg-Karabach durch Aserbaidschan im September 2023. Justitia et Pax sieht die Gefahr einer weitergehenden kriegerischen Auseinandersetzung und fordert zusammen mit den evangelischen Kirchen der Schweiz, dass die Schweiz sich mehr engagiert. Ich hoffe sehr, dass die offizielle Schweiz die Signale der beiden Kirchen hört und unsere bewährten aussenpolitischen Prinzipien auch im Fall Armeniens zur Geltung bringt.

Werner Thut, die Schweiz will bei der Entwicklungszusammenarbeit sparen und in Rüstung investieren. Warum ist das der falsche Weg?

Werner Thut: Über Krieg und Frieden in Europa wird nicht allein auf den ukrainischen Schlachtfeldern entschieden. Russland führt in mindestens fünf Ländern vom Balkan bis in den Südkaukausus einen intensiven Propaganda-Krieg um die Herzen und Köpfe, mit dem Ziel, den Verteidigungswillen, Zukunftshoffnungen und Regime-Stabilität dieser Länder zu untergraben. Deshalb tragen wir beispielsweise in Armenien mit zivilen Projekten der Entwicklungszusammenarbeit auch zu dessen Sicherheit bei. Dies ist ein Beitrag zur Sicherheit in Europa. Damit ist die Entwicklungspolitik die wirksamste Sicherheitspolitik der Schweiz im globalen Rahmen. Dieses Engagement muss auch künftig gesichert sein. 

Wolfgang Bürgstein und Werner Thut

Wolfgang Bürgstein ist Generalsekretär von Justitia et Pax Schweiz. Dieser Think Tank der katholischen Kirche untersteht der Schweizer Bischofskonferenz und beschäftigt sich mit sozialen, politischen, wirtschaftlichen und ökologischen Fragen.

Werner Thut war bis Juni 2024 stellvertretender Regionaldirektor des Schweizer Programms für Entwicklungszusammenarbeit im Südkaukasus. In dieser Funktion war er verantwortlich für das DEZA-Programm in Armenien, wo er auch stellvertretender Missionschef war.

Sie waren lange Jahre für das Südkaukasus-Programm der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) mitverantwortlich, eine Region, die den meisten Menschen in der Schweiz wenig präsent ist. Warum sollten wir uns für diese Region interessieren?

Thut: Die Schweizer Verfassung hält fest, dass unsere Aussenpolitik nicht nur unseren Wohlstand fördern soll, sondern auch grundlegende Werte wie Demokratie und Menschenwürde. Der Südkaukasus mit Armenien ist aktuell ein Brennpunkt geostrategischer Interessen, insbesondere von Russland, der EU und den USA. Die Region droht zu einem politisch-militärischen Pulverfass zu werden. Hier zu Frieden, Wohlstand und Schutz der Umwelt beizutragen ist letztlich im Interesse der Schweiz selbst.

Trotz der geopolitischen Bedeutung wird der Konflikt in Armenien bei uns kaum wahrgenommen. Warum ist das so?

Thut: Das hat auch mit der Berichterstattung der Medien zu tun. Auch andere Konflikte – selbst solche mit immensen Opferzahlen etwa in Afrika – finden wenig Aufmerksamkeit. Wenn sich die westlichen Grossmächte USA und die EU politisch und militärisch nicht engagieren, sinkt auch das Medieninteresse. Richtig ist aber auch, dass der Konflikt im Südkaukasus von seiner Grössenordnung her nicht vergleichbar ist mit der Ukaine oder dem Gaza-Streifen. 

Das eingeklemmte Land

Armenien ist ein Land mit jahrtausendealter christlicher Tradition und einem enormen kulturellen Erbe. Eingeklemmt zwischen Türkei und Aserbaidschan, Iran und Georgien, ist es immer wieder durch geopolitische Interessen bedroht. Die Schweiz verbindet mit Armenien eine lange Solidarität. So forderte bereits 1896 eine Petition mit über 450'000 Unterschriften vom Bundesrat, dass er gegen den beginnenden Völkermord diplomatisch interveniere. Die humanitäre Hilfe beim Erdbeben von 1988 ist den Menschen heute noch in Erinnerung.

Auch ohne Engagement aus Bundes-Bern scheint sich die Lage in Bergkarabach beruhigt zu haben. Ist der Konflikt beigelegt?

Thut: Nein. Kenner und Kennerinnen der Lage gehen davon aus, dass Aserbaidschan nur eine taktische Pause eingelegt hat, weil im November die grosse internationale Umweltkonferenz COP 29 in Baku stattfindet. Hier will sich das Land als respektables Mitglied der Weltgemeinschaft präsentieren – da passt Krieg schlecht dazu. Grundlegende Fragen sind weiterhin ungeklärt: Grenzziehungsfragen, territoriale Ansprüche Aserbaidschans auf einen Transportkorridor durch Armenien, die Rückkehr armenischer Kriegsgefangener. Dazu verlangt Aserbaidschan von Armenien eine grundlegende, inakzeptable Verfassungsänderung. 

Wie könnte Schweizer Entwicklungshilfe hier friedenssichernd wirken?

Thut: Das Armenien-Programm der DEZA ist ein gutes Beispiel, wie mit der Entwicklungszusammenarbeit auch Friedenspolitik betrieben werden kann. Schon heute tragen wir dort zur Stabilisierung von innenpolitischen Konflikten und zur Verhinderung von Umsturzaktivitäten von aussen bei. Wir verbessern die wirtschaftlichen Perspektiven für die Menschen in Grenzgebieten. Ganz allgemein stärken wir die Zuversicht und Verbundenheit der Jugend mit ihrer Heimat.

Schliesslich fördert die Schweiz die grenzüberschreitende regionale Zusammenarbeit. So bieten sich gerade auch an der Klimakonferenz im November in Baku eine Gelegenheit, konkrete Vorschläge für grenzüberschreitende Projekte einzubringen, die objektiv im gemeinsamen Interesse von allen liegen. Zum Beispiel für ein besseren Management von regionalen Wasservorkommen oder Klima-Risken. Entspechende Überlegungen dazu liegen vor. Was bislang allerdings noch fehlt, ist der politische Wille, mit einem realistischen finanziellen Engagement den ersten Schritt auszulösen. Damit könnte man die Stärken der Schweizer Entwicklungspolitik nutzen – anstatt diese totzusparen.