Recherche 27. November 2020, von Delf Bucher

«Armenien kann als Gewinner aus dem Konflikt hervorgehen»

Politik

Wie weiter in Armenien nach der Niederlage in Berg-Karabach. Der Kaukasus-Experte hofft, dass der mit der «samtenen Revolution» angestossene Reformprozess weitergeführt wird.

Vor beinahe drei Wochen unterzeichnete der armenische Premierminister Pashinyan den vom russischen Präsidenten Putin aufgezwungenen Friedensvertrag. Darauf wurde das Parlament in der Hauptstadt Eriwan gestürmt, der Rücktritt des Premiers gefordert. Wie sieht es heute aus?

Anfangs lag ein Rücktritt in der Luft. Aber nach dem ersten Anlauf der nationalistischen Opposition gelang es ihr nicht, eine kritische Masse zu mobilisieren, um den Rücktritt der Regierung zu erzwingen. Dies deutet darauf hin, dass die Opposition, die weitgehend im Schatten des alten Regimes steht und als einzigen Programmpunkt die Ablehnung des Waffenstillstandsabkommens anbietet, eine schmale Basis in der Bevölkerung hat.

Und nun sitzt Pashinyan fest im Sattel?

Keineswegs. Der Krieg und die Niederlage haben zu einem dramatischen Rückgang seiner Popularität geführt. Darüber hinaus wurde der armenische Führer durch eine Reihe von Rücktritten seiner engen Mitarbeiter weiter geschwächt. Die Frage bleibt: Ist Armenien in der Lage, rasch eine zukunftsorientierte politische Führung hervorzubringen, die die gegenwärtigen Klippen überwindet und das Land zu neuen Ufer führen kann?

Sind Sie optimistisch?

Ich sehe zumindest die Möglichkeit für einen guten Ausgang. Für mich ist das Schicksal des Premierministers nicht unbedingt verknüpft mit der Zukunft der Demokratie in Armenien. Die Demokratie ist die einzige Chance für Armenien, das von lauter Autokratien wie Türkei Aserbaidschan und Russland umgeben ist. Militärisch hat das kleine und an Bodenschätzen arme Land überhaupt keine Erfolgsaussicht gegen das ölreiche Aserbaidschan zu gewinnen. Es fehlen einfach die Ressourcen dafür. Aber Armenien hat das Potenzial, eine moderne offene Gesellschaft aufzubauen, dessen Grundstein mit der «samtenen Revolution« von 2018 gelegt wurde. Und dann könnte es zum Schluss auf eine ganz andere Art als Gewinner aus diesem Konflikt hervorgehen. Jetzt heisst es aber, die Folgen des Krieges beiseite zu räumen. Nun ist es wichtig, dass die internationale Gemeinschaft und speziell natürlich die westlichen Länder ihre Solidarität zeigen und zum Wiederaufbau von Armenien und Bergkarabach Hilfsgelder bereitstellen. Das hat der Westen 2008 nach dem Krieg um Süd-Ossetien in Georgien gemacht. Und das war sehr wichtig, um den Reformprozess dort fortsetzen zu können. Das gilt auch für Armenien: Wenn dort nach der militärischen Niederlage noch eine humanitäre Katastrophe dazukommt, gewinnen die Nationalisten Auftrieb.

Und dann wird die politische Agenda von dem Revanchegedanken bestimmt, Berg-Karabach militärisch zurückerobern?

Das ist zu befürchten, so unrealistisch dies auch in Anbetracht der Kräfteverhältnisse zwischen Armenien und Aserbaidschan ist. Wenn wir eine Atmosphäre des Friedens schaffen wollen, dann muss dieser nationalistischen Propaganda der letzten 20 Jahren endlich ein Ende gesetzt werden.

Berg-Karabach

Berg-Karabach

Das gebirgige Berg-Karabach hat weniger als 150.000 Einwohner – hauptsächlich ethnische Armenier – und eine Fläche die zwei Mal so gross ist wie der Kanton St. Gallen. Durch Stalins Dekret 1921 kam die armenische Exklave als autonome Region zu Aserbaidschan und proklamierte während des Zusammenbruchs der UdSSR ihre Unabhängigkeit. Aserbaidschan akzeptierte dies nicht. Anfang der 1990er-Jahre war ein Krieg mit 30.000 Toten die Folge, der auf beiden Seiten zu einem grossen Bevölkerungsaustausch führte. Die selbst ernannte „Republik Berg-Karabach“ wurde danach von keinem Staat der Welt anerkannt; Experten sprechen jedoch von einem „De-facto-Staat“, der von Armenien militärisch und wirtschaftlich unterstützt wird. Sieben an Berg-Karabach angrenzende Territorien wurden zudem von armenischen Streitkräften kontrolliert und sind nun nach dem Krieg 2020 aserbaidschanisches Staatsgebiet.

Sie reden von den letzten 20 Jahren. War es davor besser?

Nach dem Ende des Krieges 1994 gab es Zeichen der Annäherung. Ich selber war damals involviert in Dialoge zwischen Aserbaidschanern und Armeniern. Ich hab zum Beispiel auch Journalisten aus Aserbaidschan nach Armenien und nach Bergkarabach gebracht und ich habe eine Konferenz in Baku organisiert. Damals war der Präsident Heyder Alijev, der Vater des heutigen aserbeidschanischen Staatschefs, mit von der Partie. Es war noch ein gewisser Wille spürbar, vom kalten Frieden zu einem echten Frieden überzugehen.

Und warum wurde dieser Dialog nicht weitergeführt?

2003 gab es so etwas wie eine Zäsur. Damals kam Ilham Alijev an die Macht. Er stoppte den Dialog und posaunte immer lauter in die militaristische Propaganda-Trompete. Zur gleichen Zeit flossen in die Staatskassen immer mehr Petro-Dollar, was eine gewaltige Aufrüstung der Armee erlaubte. Dann ging es den Aserbaidschanern auch nicht mehr nur um die Rückgabe der als Pufferzone besetzten aserbaidschanischen Gebiete rund um Berg-Karabach, sondern plötzlich um das kleine Berg-Karabach selbst. Und leider wurde auch auf der Gegenseite bei den Armeniern der nationalistische Diskurs schriller. Die Positionen verhärteten sich. 

Behindert nicht auch die neoimperiale Politik von Erdogan einen Friedensprozess?

Die Türkei war schon vor Erdogan ein Teil des Konflikts. Was wir dieser Tage sehen, ist nur eine andere Intensität. Bereits 1992 lieferte Ankara Waffen. 1993 schloss die Türkei die Grenzen, um Armenien von der Welt abzuschneiden. Die Türkei ist wirklich sehr präsent in diesem Konflikt. Das macht es so schwierig, eine Lösung zu finden. Denn wir haben hier zum einen den Konflikt von Armenien mit der Türkei und zum anderen den Konflikt der Aserbaidschaner mit den Armeniern.

Vicken Cheterian

Vicken Cheterian

Vicken Cheterian ist Journalist und Kaukasus-Experte, der sowohl an der Universität Genf und der dort ebenfalls domizilierten Webster University lehrt. In seinem Buch «Open Wounds» zeichnet er nach, wie sehr die politischen Diskurse über den Völkermord von 1915, auch die aktuelle Kriegsrhetorik rund um Berg-Karabach bestimmt. Damals wurden circa 1,5 Millionen Armenierinnen und Armenier im Osmanischen Reich systematisch getötet.