Die Pfingstbewegung erfasst weite Teile der Welt

Christentum

Das Versprechen der Pfingstkirchen, dass sich jeder selbst helfen kann, zieht Millionen Menschen an. Besonders für Frauen ist es attraktiv. 

Sonntag, kurz vor zehn Uhr morgens in einem Bürohaus in Baden. Aus einem Raum mit dunkelrotem Spannteppich und Wandbehängen mit Flammen darauf schallen Sätze in Englisch. Die Tür ist offen, zwischen Stühlen stehen Menschen aus verschiedenen Kontinenten und lauschen andächtig «Assistant Pastor» Doris. Die Ghanaerin mit Dutt und in langem Kleid dankt Gott für all das Gute im Leben in der friedlichen Schweiz und Gottes Dasein, «Halleluja!». Ihre freie, rund eine halbe Stunde dauernde Anbetung übersetzt «Lady Pastor» Silvia, die an einem elektrischen Piano sitzt, simultan ins Deutsche.

Dieses Warm-up findet vor jedem Gottesdienst der Christ International Church (CIC) statt. Pastorin Silvia Osoko, eine Schweizerin, und ihr Mann Solomon Osoko, ein gebürtiger Nigerianer, gründeten die Freikirche im Jahr 2004. Heute wird die Pastorin, nachdem ihre Gemeinde fünf Lieder unter Schlagzeug- und Pianobegleitung gesungen hat, eine Predigt über Loyalität halten. Ihr Mann macht derweil eine Stellvertretung bei CIC in Bern.

Heiliger Geist zeigt sich im Erfolg

Was sich in der Aargauer Stadt im Kleinen vollzieht, lockt in Subsahara-Afrika, Asien und Amerika Millionen von Menschen an. Und es werden immer mehr. Die Pfingst-, auch pentekostal genannte Bewegung ist die am schnellsten wachsende Religion der Welt. Vor allem die seit den 1970er-Jahren entstandenen Megakirchen im globalen Süden werden von Hunderttausenden besucht. In Brasilien und Nigeria bekennen sich 30 Prozent der Bevölkerung zu dieser Bewegung. 

Die Gläubigen berufen sich auf das Pfingstwunder in der Bibel, wonach der Heilige Geist die Jüngerschar Jesu ergriff und Menschen aller Sprachen sie verstehen konnten. Die Kirchen haben diverse Ausrichtungen, nicht alle bezeichnen sich als pentekostal, aber sie verbindet der Glaube an wirkmächtige Ausdrucksformen des Heiligen Geistes im Menschen: Zeichen körperlicher Ekstase oder Verhaltensänderungen, wie etwa die Abkehr vom Alkohol. Manche neopentekostalen Kirchen verkünden zudem das sogenannte Wohlstandsevangelium: Das heisst, dass sich die Gunst Gottes in wirtschaftlichem wie auch persönlichem Erfolg zeigt.

Bald prägendste Kraft

«Die Megakirchen sind bald die prägendste Kraft im Christentum», ist Andreas Heuser überzeugt. Er ist Professor für aussereuropäisches Christentum an der Uni Basel und Mitglied des internationalen Netzwerks Glopent, das die Bewegung erforscht. «Das Wohlstandsevangelium hat aus religionssoziologischer Perspektive den Vorteil, dass sich Gläubige nicht mehr als Opfer der Geschichte sehen, sondern als Akteurinnen und Akteure ihres Schicksals: Sie können sich selbst aus dem Sumpf ziehen.» 

Attraktiv ist auch, dass die Campusse funktionierende Infrastrukturen mit Bildung, gar eigenen Universitäten, Gesundheitsversorgung, Banken sind – Einrichtungen, die in vielen Staaten sonst nur mangelhaft zur Verfügung stehen. Die multimedialen Gottesdienste mit professioneller Musik und wundersamen Heilungen sind zudem mitreissendes Entertainment.

Viele Klischees

Viele beobachten aber die Megakirchen mit Skepsis. Nicht wenige ihrer Gründer sind steinreich, und der Verdacht liegt nahe, sie würden mit ihren Heilsversprechen vor allem anderen das Geld aus der Tasche ziehen. Tatsächlich gab es immer wieder Betrugsskandale. 

Kritik löst auch die homophobe Gesinnung mancher afrikanischer Pfingstkirchen aus. Ein konservatives Familienbild verteidigen allerdings auch die anderen christlichen Kirchen, gemeinsam mit den politischen Eliten stellen sie sich gegen den Genderdiskurs des Westens. 

Laut Heuser wird eine Pauschalisierung der Pfingstbewegung deren Bemühungen jedoch nicht gerecht. Bei seinen Forschungen in Afrika beobachtet er auch viel Positives: «Die Ermutigung, sich selbst zu helfen, ermöglicht dann vielen tatsächlich ein besseren Leben, vor allem Frauen.» Oft seien diese alleinerziehend, dank einem Kleinkredit der kirchlichen Bank oder diakonischen Projekten können sie ihr Leben positiv verändern.

Und noch etwas macht Pfingstkirchen für junge Frauen attraktiv: Alle dürfen mitgestalten und Leitung übernehmen – was Frauen in zahlreichen kulturellen Kontexten ansonsten verwehrt wird. 

Aufbruch in die Modernität

«Die Kirchen sprechen generell junge, agile, auch gut ausgebildete Menschen an, die etwas verändern möchten», sagt Heuser. «Es wäre verwegen zu behaupten, sie würden sich alle verführen lassen.» Die Pfingstbewegung vermittle den Aufbruch in ein moderneres Leben und eröffne Perspektiven. Zum Beispiel befürworten sie die Kernfamilie, was das Individuum von der Pflicht befreit, die weitverzweigte Verwandtschaft finanziell zu unterstützen, sobald man etwas Geld hat.

Einfluss auf Politik

Eine ähnliche Attraktivität macht Tobias Brandner, Professor für Theologie an der Chinesischen Universität Hongkong und Mitarbeiter von Mission 21, in den Pfingstgemeinden in Ostasien aus. Dort sind sie am stärksten in Singapur, Südkorea und Hongkong verbreitet. Er sagt: «Das Priestertum aller Gläubigen ist in Pfingstgemeinden radikaler demokratisiert als im europäischen Protestantismus. Dem steht gegenüber, dass die Beziehung zwischen Führern und Anhängern oft durch Bevormundung gekennzeichnet ist.» Die ostasiatischen Kirchen seien weniger rechtskonservativ und übten weniger Einfluss auf die Politik aus. Als äusserst positiv erlebt er die Beziehung zwischen den unterschiedlichen christlichen Denominationen. «Davon könnten wir in Europa einige Scheiben abschneiden!»

Zurück nach Baden. Nach dem Gottesdienst sitzen alle an Tischen und essen von einem Buffet, zu dem alle beigetragen haben. Pastorin Silvia sagt, dass sie nicht leben könnte ohne ihren Glauben an Gott und die Präsenz des Heiligen Geistes, er gebe Halt und Orientierung, gerade auch in stürmischen Zeiten. «Aber fast ebenso wichtig ist unsere Gemeinschaft hier», betont die Pastorin. «Jeder Mensch braucht andere Menschen an seiner Seite. Was wir machen, ist somit einfach gelebtes Evangelium.»  

Die ökumenische Zukunft gestalten

Die Migrationskirchen sind ein fester Bestandteil der religiösen Landschaft und werden weiter wachsen. «Das
ist die ökumenische Zukunft», sagt Andreas Heuser. Der Basler Professor
hat die Weiterbildung «Interkulturelle Theologie und Migration» entwickelt. Dieser CAS ermöglicht es Menschen aus dem reformiert-landeskirchlichen
Umfeld sowie Mitgliedern von Migrationskirchen, sich miteinander zu vernetzen und die Kenntnis voneinander zu stärken. «Der Dialog mit den Migrationskirchen kann auf diese Weise gefestigt werden», sagt Bettina Lichtler von der Landeskirche Zürich.

Der Lehrgang bietet einen vertieften Einblick in die christliche Vielfalt der Schweiz. Allerdings könnte die Teilnehmerzahl aus den reformierten Landeskirchen höher sein. Das sieht auch Sabine Jaggi von der Berner Landeskirche so: «Optimal ist ein Verhältnis
von zwei Dritteln zu einem Drittel.» Wobei Menschen aus den Migrations-kirchen den grösseren Anteil bilden. Neben einer breiten theo-logischen
Bildung mit universitärem Zertifikat erwartet die Teilnehmenden ein gros
ses Netzwerk. Der einjährige CAS startet wieder im Januar 2025. cb