Politik 13. Mai 2024, von Sandra Hohendahl-Tesch

«Fundamentalisten dürfen nicht den Ton angeben»

Bildung

In Pfäffikon ZH wurde einem homosexuellen Lehrer gekündigt, weil christlich- und muslimisch-konservative Eltern Druck ausübten. Religionsexperte Georg Schmid ordnet den Fall ein.

In Pfäffikon wurde ein schwuler Lehrer wegen seiner sexuellen Orientierung entlassen. Wie ist das in unserem aufgeklärten Zeitalter überhaupt möglich?

Da wurde offenbar dem Druck mancher Eltern nachgegeben. Zuerst zeigte die Schulleitung gegenüber der Forderung von konservativ-freikirchlichen Eltern zwar klare Kante. Aber dann traten zusätzlich muslimische Eltern auf den Plan. Und das nicht zum ersten Mal: Mir ist ein anderer Fall bekannt an einem anderen Ort, wo es genauso ablief.

Die Eltern haben ihr Ziel demnach nur erreicht, weil sie sich zusammengeschlossen haben?

Ja. Sechs Elternpaare haben eben mehr Gewicht als drei. Die Schulleitung musste sich plötzlich mit zwei verschiedenen Weltanschauungen auseinandersetzen, da ist sie offensichtlich eingeknickt. Wenn Anfragen alleine von muslimischer Seite gekommen wären, wäre die Schule möglicherweise nicht so nachgiebig gewesen. Der Faktor Allianz mit mehreren verschiedenen Wertanschauungen hat vermutlich den Ausschlag gegeben.

Werden solche konservativen, interreligiösen Allianzen in Zukunft Schule machen?

Da bin ich mir sicher. Wertkonservative, fundamentalistische Kreise werden aus dem Beispiel Pfäffikon ihre Konsequenzen ziehen und sich über die Grenzen der Religionen hinweg zusammenschliessen, wo sie gemeinsam gegen den gesellschaftlichen Wandel in der Schule vorgehen wollen. Schweizer Schulen sind darauf nicht überall gleich gut vorbereitet. Es scheint, dass mancherorts lieber nachgegeben wird, statt sich Ärger aufzuladen. Das ist eine gefährliche Entwicklung, die man im Auge behalten muss. Fundamentalisten dürfen im Schulzimmer nicht den Ton angeben.

Theologe und Religionsexperte

Theologe und Religionsexperte

Georg Otto Schmid ist Theologe und Religionsexperte. Seit 1993 ist er Mitarbeiter der Evangelischen Informationsstelle Kirchen – Sekten – Religionen (Relinfo). 2014 übernahm er deren Leitung. Das von den Landeskirchen unterstützte Angebot informiert alle Personen und Institutionen, welche Fragen zu religiösen oder weltanschaulichen Bewegungen haben.

Wie gross ist denn generell der Einfluss von Freikirchen auf hiesige Schulen?

Freikirchen alleine haben wenig Einfluss auf die Schulen in der Schweiz. Ein Grund ist, dass in der ganzen Schweiz immer mehr freikirchlich geprägte Schulen entstehen. Freikirchliche Eltern schicken ihre Kinder gerne dort zur Schule oder sie entscheiden sich für Homeschooling. Beides liegt im Trend. Dadurch hat der Einfluss, beziehungsweise die Zahl freikirchlicher Kinder in staatlichen Schulen, eher abgenommen. Kommt dazu, dass auch die Freikirchen wie die Landeskirchen generell an Bedeutung verlieren. 

Im Zürcher Oberland gibt es besonders viele Freikirchen. Erstaunt es Sie, dass sich der Fall ausgerechnet dort ereignet hat?

Tatsächlich ist das Oberland bekannt für die Dichte an Freikirchen, wobei die eigentliche Hochburg Winterthur ist. Es ist schon eher ungewöhnlich, dass in einem Ort gleich drei freikirchliche Familien leben, deren Kinder die gleiche Klasse besuchen.

Freikirche ist ja nicht gleich Freikirche. Wissen Sie, welcher Freikirche die Eltern angehören? 

Das ist mir nicht bekannt. Vermutlich handelt es sich um eine Gemeinschaft, die dem gesellschaftlichen Wandel besonders kritisch gegenübersteht. In Frage kommen mehrere unterschiedliche Organisationen. Besonders prominent sind in Pfäffikon zwei davon: Zum einen ist Pfäffikon der ehemalige Hauptsitz des Missionswerks Mitternachtsruf, und nach wie vor leben verschiedene führende Mitglieder dort. Der Mitternachtsruf ist traditionell betont wertkonservativer als andere Freikirchen. Zum Mitternachtsruf stossen oft Menschen, denen ihre angestammte Freikirche zu wenig traditionell war, weil sie beim Wertewandel zu stark mitgemacht hat. Der Mitternachtsruf ist recht gross und verfügt über die Zions-Halle in Dübendorf, die am Wochenende mit hunderten von Leuten gefüllt ist.

Und was sind die Werte dieser Gruppierung?

Seit den Tagen seines Gründers Wim Malgo lebt der Mitternachtsruf in der Erwartung der baldigen Wiederkunft Jesu Christi. Da ist die adäquate Reaktion auf gesellschaftliche Entwicklungen weniger ein Thema, als es in moderateren Freikirchen der Fall ist. Denn diese befinden sich im Wandel, grosse Teile der jungen Generation schätzen zwar die evangelikale Frömmigkeit, kombinieren diese aber mit liberalen gesellschaftlichen Werten, und werden deshalb als «postevangelikal» bezeichnet. Darauf reagiert haben die Methodisten, die sich aktuell offiziell zur Ehe für alle bekannt haben. In zwanzig Jahren werden alle grossen Verbände so weit sein. Freikirchen vollziehen den Wertewandel immer mit Verzögerung, siehe auch die Frauenordination oder Popmusik, letztere galt in den 80ern als satanisch – heute gibt es kaum eine Freikirche, in der keine Band spielt.

Und die zweite Bewegung, die in Frage kommt?

Das wäre die Gemeinde «Freiheit in Jesus». Die sitzen auch in Pfäffikon, wurden vom Gospel Center Brugg gegründet. Auch sie stehen am radikalen Rand der Freikirchenszene. Sie haben 2018 den deutschen Arzt Arne Elsen eingeladen, ein Evangelikaler, der von Kritikern als Schwulenheiler bezeichnet wird, weil er Befreiungsgebete mit Homosexuellen durchgeführt. Sowohl der Mitternachtsruf als auch Freiheit in Jesus sind betont wertkonservativ und LGBTQ kritisch. 

Stein des Anstosses war ja die Sexualkunde. Wie stehen wertkonservative, freikirchliche Gemeinden zur Aufklärung? 

Es gibt fundamentalistische Gemeinschaften am Rande der Freikirchenszene, die dem Aufklärungsunterricht besonders kritisch gegenüberstehen. Dazu zählt etwa die Gemeinde evangelisch Taufgesinnter, oder die evangelische Bibelgemeinde, eine konservative Abspaltung des ehemaligen Evangelischen Brüdervereins. Regelmässig beantragen Eltern, die sich dort zugehörig fühlen, dass ihre Kinder von der Sexualkunde dispensiert werden. Vielerorts wird dem auch nachgegeben. Gewisse Kantone sind da sehr liberal. Ich denke die Schulen sollten den Kindern den Zugang zum ganzen Schulstoff ermöglichen, nicht nur zu demjenigen Teil, der den fundamentalistischen Eltern genehm ist.

Sexualkunde war Dorn im Auge

In Pfäffikon ZH wurde ein Primarlehrer gemobbt und schliesslich entlassen, offenbar einzig weil er schwul ist. Antreiber des Konflikts waren christlich-konservative und muslimisch-konservative Eltern, denen der Sexualkundeunterricht ebendieses Lehrers ein Dorn im Auge war. Die gegen den Lehrer erhobenen Vorwürfe hatten sich als haltlos herausgestellt. Dennoch war der Druck der Eltern zu gross – der Lehrer verlor seinen Job.

Einige Freikirchen sind anderen Religionen gegenüber nicht besonders aufgeschlossen und stehen politisch eher rechts, da erstaunt es doch, dass man gemeinsame Sache macht…

Menschen am fundamentalistischen Rand der Freikirchenszene stehen meist auch am rechten Rand des politischen Spektrums. Zwar wird Rassismus abgelehnt, aber andere Religionen werden äusserst kritisch gesehen, vor allem der Islam. Dass man sich in Wertefragen zusammentut mit Menschen, deren Glaube man nicht teilt, wird trotzdem immer beliebter. Konservative Evangelikale arbeiten heute ja auch mit katholisch konservativen Kreisen zusammen, was vor 30 Jahren noch undenkbar war. Damals war der Papst der Antichrist, die katholische Kirche vom Satan infiziert, die Marienverehrung ein heidnischer Brauch. Jetzt arbeiten beim «Marsch fürs Leben» konservative freikirchliche und katholische Organisationen bestens zusammen. Das kann man schon ausdehnen auf Muslime: Es geht um die gemeinsamen Werte und nicht den gemeinsamen Glauben.

Der Fall Pfäffikon weist Parallelen zur Entwicklung in den USA aus, wo konservative Eltern immer mehr Einfluss auf Schulen ausüben und sogar bewirken, dass etwa LGBTQ-Literatur aus den Schul-Bibliotheken entfernt wird. Ist so etwas bei uns auch denkbar?

Die USA sind in Sachen Evangelikalismus eine Ausnahme. Gerade in konservativen Staaten wie Texas oder Florida, wo Gouverneur Ron DeSantis die so genannten «book bans» vorantreibt. Es gibt da nach wie vor Gegenden, in denen konservativ-evangelikale Christen klar in der Mehrheit sind. Tun sie sich dann noch mit konservativen Katholiken zusammen, ergibt das eine überwältigende Mehrheit – da können sie natürlich schon mächtig Einfluss nehmen auf die Schule und die Gesellschaft im Allgemeinen. In der Schweiz stellen fundamentalistisch-christliche Gemeinschaften nur zwei, maximal drei Prozent der Bevölkerung – der Einfluss ist somit begrenzt. 

Kommen wir auf den Fall Pfäffikon zurück: Sehen sie die Ereignisse, die zur Kündigung des Lehrers geführt haben, als Ausdruck einer tieferen gesellschaftlichen Spaltung an?

Ich würde schon sagen. Die Post-Corona-Gesellschaft teilt sich in Weltanschauungs-Bubbles, die sich zum Teil überschneiden, sich zum Teil auch feindlich gesinnt sind. Aber sie haben eines gemeinsam: Sie sind kritisch gegenüber der Mainstream-Gesellschaft. Und wie wir sehen, sind sie bereit, Allianzen zu schmieden, um ihre Ziele zu erreichen. Das könnte uns in den nächsten Jahren noch beschäftigen.