«Begegnungen bauen Barrieren im Kopf ab»

Deutschland

Elisabeth Schulze möchte in ihrer Kirchgemeinde mit Menschen verschiedenster Gesinnung in Kontakt sein, auch mit Neonazis. Das Credo des Pfarrteams: Begegnungräume schaffen. 

Am 22. September sind in den Bundesländern Brandenburg, Sachsen und Thüringen die Landtagswahlen. Wie lautet Ihre Prognose? 

Elisabeth Schulze: Seit den Europa- und Kommunalwahlen bin ich pessimistisch. Hier in Spremberg ging die Kommunalwahl dramatischer aus, als ich dachte, die AfD ist mit 39 Prozent stärkste Partei. Als öffentlich wurde, dass in Potsdam die Neue Rechte die Vertreibung von Millionen Menschen diskutierte, ging ein Ruck durch die Bevölkerung, aber dieser hatte offensichtlich keine nachhaltige Wirkung.

2020 gründeten Sie zusammen mit einem Pfarrer und einer Pfarrerin in Spremberg das Bündnis «#unteilbar», das sich für Solidarität
einsetzt. Was unternehmen Sie gegen das Erstarken der Rechten? 

Dieses Wochenende zum Beispiel findet in Spremberg das Heimatfest statt. Überall ist was los, einiges mit patriotischem Anstrich. Unser Bündnis bietet eine Ruheoase im Trubel an. Auf dem Kirchplatz stehen im Schatten des Turms Liegestühle, eine Bar mit alkoholfreien Cocktails, in der kühlen Kirche gibt es Besinnung bei guter Musik. In der Einladung, die auch ukrainisch, arabisch und englisch formuliert ist, sprechen wir insbesondere Heimatlose an. Am Sonntag feiern wir einen Volksliedergottesdienst. Weil wir die Volkslieder nicht den Rechtspopulisten überlassen wollen. Die kirchlichen Volkslieder definieren Heimat nicht mit Landesgrenzen, sondern in seelischer Geborgenheit.

Was gab damals den Ausschlag, «#unteilbar» zu gründen? 

Wir drei Pfarrpersonen waren neu hier. Uns machte stutzig, dass es keine Erinnerungskultur zu den Pogromen am 9. November 1938 gab. Manche sagten, hier habe es keine Juden gegeben. Noch im ersten Jahr führten wir mit Jugendlichen und weiteren Engagierten die erste Gedenkveranstaltung durch und nannten die Namen damals verstorbener Juden. So formierte sich eine feste Gruppe, und wir machten uns als Nächstes daran, den Marktplatz allen zugänglich zu machen. Rechte Jugendliche, auch Neonazis, hatten ihn vereinnahmt. Es war unangenehm, an ihnen vorbeizugehen. Wir wollten lustvoll zeigen, dass der Platz allen gehört und Spremberg bunt ist. Seither organisieren wir jährlich einen Tag mit Ständen von sozialen und diakonischen Organisationen, wo alle die Möglichkeit haben, kreativ zu werden. 

Rechtsrutsch in Deutschland

In Deutschland finden 2024 mehrere Wahlen statt: Neun Bundesländer wählten im Frühling die kommunalen politischen Gremien, in vier erhielt die AfD vielerorts die meisten Stimmen. Bei den Wahlen der deutschen Abgeordneten ins Europaparlament wurde die AfD zweistärkste Kraft. Im September bestimmen die Bundesländer Sachsen, Thüringen und Brandenburg einen neuen Landtag. Auch dort könnte die AfD die stärkste politische Kraft werden. In Thüringen und Sachsen stufte der Verfassungsschutz die AfD Landesverbände als gesichert rechtsextrem ein. Die grossen Kirchen Deutschlands stellen sich klar gegen Rechtsradikalismus, und viele Gemeinden verwenden den Slogan «Kirche gegen rechts» des ökumenischen Arbeitskreises der Stadt Aachen.

Erreichen Sie damit denn auch Menschen mit rechter Gesinnung? 

Tatsächlich kommen mehrheitlich jene, die eh offen sind. Aber auch Menschen, die man kaum sieht, etwa Geflüchtete. Und es tauchen zunehmend Leute auf, die AfD wählen, aber trotzdem gut finden, was wir machen. Dieser Austausch ist das Wichtigste, viele sprechen nicht mehr über politische Themen. Gemeinsam kreativ zu sein, ist ideal, um miteinander in Kontakt zu treten. Das gelingt uns auch in anderen Angeboten immer mehr. 

Die da sind? 

Freitags ist die Kirche stets von 14 bis 22 Uhr für alle offen, man kann kochen, spielen, Hausaufgaben machen. Das wird gut genutzt. Durch den Ukraine-Krieg entstand zudem der Together-Treff. Einheimische und Geflüchtete machen da etwa Yoga oder nähen. Das Bündnis, das inzwischen mehrheitlich aus Leuten von ausserhalb der Kirche besteht, bietet zudem Lesungen und Workshops an, auch in Schulen. 

Suchen Sie auch den Kontakt zu Rechtsradikalen? 

Das ist die ewige Frage: Wo sind die Grenzen? Einerseits müssen wir die Jugendlichen schützen, denn von Menschen mit verfassungsfeindlichen Schriftzügen auf den T-Shirts und Hakenkreuz-Tattoos geht stets Bedrohung aus. Als Pfarrerin möchte ich dennoch mit allen reden, bevor ich die Polizei rufe. Zuweilen führe ich Trauergespräche in Wohnzimmern, wo die Reichsfahne hängt. Jeder soll wissen, dass ich zuhöre. Ich sage nie, dass ich gegen etwas bin, sondern stets, wofür. Der Initiativname «Kirche gegen rechts» gefällt mir deshalb nicht. 

Wir müssen mit gutem Beispiel vorangehen und Räume schaffen, wo die Kirche zeigen kann, wofür sie steht und dass sie für alle da ist, auch für AfD-Wähler, auch für Neonazis.
Elisabeth Schulze

Erleben Sie Ihre Rolle als Pfarrerin als Vor- oder Nachteil? 

Klar als Vorteil. Alles in allem geniessen wir Pfarrerinnen und Pfarrer einen Vertrauensvorschuss und gelten als neutral. So wurde ich als Moderatorin für das Wahlforum engagiert. Dort können die Bürgerinnen und Bürger den Kandidierenden aller Parteien direkt Fragen stellen. Einige finden aber, die Kirche solle sich aus der Politik raushalten. 

Was antworten Sie? 

Alle Menschen sind politisch, also auch die Kirche. In der Überzeugung, dass vor Gott alle Menschen gleich sind, setzt sie sich für ein Miteinander ein. Das zeigen wir mit jedem Abendmahl. Als im Juni 2023 eine Regenbogenfahne an unserem Kirchturm wehte, schmiss jemand einen Molotowcocktail gegen den Turm. Wir hängten daraufhin ein Banner auf mit dem Bibelvers «Fürchte dich nicht, sondern rede und schweige nicht! Denn ich bin mit dir, und niemand soll sich unterstehen, dir zu schaden.» Die Kirche hat ein grosses Potenzial, sich für die Demokratie einzusetzen.

Was, befürchten Sie, wird geschehen, wenn die AfD bei den Landtagswahlen weiter zulegt? 

Dass sich die negative, von der AfD geschürte Stimmung gegen Mitmenschen und Minderheiten ausweitet. Ihre Dominanz im Stadtrat spüren wir, vieles wird blockiert. Kürzlich sass ich in einem Restaurant. Vier Mitglieder eines rechten Motorradclubs kamen herein. Ihr Gebaren, ihre Hakenkreuz-Tattoos: Sie dominierten die Atmosphäre. Dieses Destruktive finde ich sehr bedrohlich. Beängstigend ist auch die Tendenz, autoritäre Systeme in Schutz zu nehmen, etwa durch Verharmlosung der Politik Russlands. 

Und was bedeutet all das für die Kirche? 

Wir müssen weiterhin mit gutem Beispiel vorangehen und viele Räume schaffen, wo die Kirche zeigen kann, wofür sie steht und dass sie für alle da ist, auch für AfD-Wähler, auch für Neonazis. Mit Argumenten erreichen wir wenig, es ist die Begegnung, die Barrieren im Kopf abbaut. Die viel beschworene «Brandmauer gegen rechts» funktioniert nicht. Wir müssen Mauern einreissen, nicht aufbauen.

Elisabeth Schulze, 36

Elisabeth Schulze, 36

Elisabeth Schulze studierte evangelische Theologie in Leipzig, Heidelberg, Kyoto und Berlin. Ihr Vikariat machte sie in Berlin-Schlachtensee. Seit 2020 arbeitet sie als Pfarrerin in Spremberg im deutschen Bundesland Brandenburg, gemeinsam mit einer Pfarrerin und einem Pfarrer gleichen Alters. Sie ist Vorstandsmitglied bei Kirche im Gefängnis e. V.