«Tomatenpflücker werden wie Sklaven behandelt»

Wirtschaft

Die Arbeitsbedingungen der Erntehelfer machten Yvan Sagnet zum Aktivisten. Mit «reformiert.» spricht er über sein Europa-Bild, die Verantwortung der Konsumenten und den Glauben.

Sie gingen nach Italien, um zu studieren, wurden dann aber Aktivist, der sich für die Rechte von Ernte­helfern einsetzt. Wie kam es dazu?

Yvan Sagnet: Ich kam 2007 zum Studium nach Turin. Dass ich in Italien studieren konnte, war nicht selbstverständlich. Das kostet viel Geld, die Familie in Kamerun musste einige Opfer dafür bringen. Aber ich wollte unbedingt nach Europa, ich hatte ein sehr positives Bild von Europa. Während des Studiums ging mir dann das Geld aus. Im Sommer 2011 suchte ich mir darum einen Job während der Semesterferien.

Und so landeten Sie bei der Feld­arbeit in Süditalien?

Genau. Freunde hatten mir erzählt, dort würden Erntehelfer gebraucht. Ich fuhr also mit den Zug nach Nardò, wurde dort von jemandem abgeholt und in ein Migranten-Camp, ein Ghetto, gebracht. Was ich dort gesehen habe, war schockierend. 1200 Menschen lebten dort auf engstem Raum in Behausungen aus Karton, Holz oder Plastik. Es gab nur wenige Duschen und Toiletten, das hiess, stundenlang anstehen zu müssen. Ich war zutiefst schockiert, es war, als sei ich auf einem anderen Kontinent gelandet und nicht in Europa. Solch schlimme Zustände war ich aus Kamerun nicht gewöhnt.

Warum kehrten Sie nicht gleich nach Turin zurück?

Ich hatte nicht einmal mehr Geld für ein Zugbillett, ich musste arbeiten. In den Lagern bestimmen Vermittler, sogenannte Caporali, was läuft. Sie agieren zwischen den Landwirtschaftsbetrieben und den Arbeitern, spielen im System der Agromafia eine wichtige Rolle. Ich habe mich bei einem Caporale gemeldet, nach zwei Wochen ging es das erste Mal aufs Feld zur Tomatenernte. Doch auch bei der Arbeit waren die Bedingungen schlicht katastrophal.

Inwiefern?

Wir waren 25 Arbeiter und mussten uns bei grösster Hitze in einen Lieferwagen quetschen, der nicht einmal Fenster hatte. Am Feld angekommen, erklärte der Caporale, dass wir pro Kiste bezahlt werden. Das ist nicht legal, denn das Gesetz schreibt Tagessätze vor. Pro Kiste mit 300 Kilo Tomaten erhielten wir 3.50 Euro. Die Feldarbeit ist hart, zu Beginn war ich sehr langsam. Zudem gibt es Abzüge: 5 Euro für den Transport, 3.50 für ein Sandwich, 1.50 Euro für eine Flasche Wasser. Am Ende blieb fast nichts übrig. Ich habe versucht, schneller zu arbeiten. Der Druck war enorm, wir schufteten bis zu 14 Stunden. So behandelt man keine Menschen. Tomatenpflücker werden wie Sklaven gehalten.

Wann kam der Punkt, als Sie sagten, es reicht?

Eines Tages mussten wir Tomaten für den Frischverkauf, also nicht für die Dosenproduktion, pflücken. Wir sollten sie einzeln von Hand lesen, das dauert sehr lange. Da habe ich meinem Caporale gesagt, das gehe so nicht. Immer mehr Arbeiter kamen, sie stimmten mir zu. Wir legten die Arbeit nieder, auch im Camp schlossen sich die Menschen uns an. Als wir sämtliche Strassen rundherum blockierten, kamen die Polizei, der Bürgermeister, die Medien. Jetzt waren die Arbeitsbedingungen der Migranten plötzlich ein Thema.

Yvan Sagnet

Yvan Sagnet

Der Aktivist Yvan Sagnet ist 1985 im kamerunischen Douala geboren. Mit seiner Fami­lie lebt er in Rom, ist aber meistens im Süden Italiens unterwegs. Für sein soziales Engage­ment bekam er zahlreiche Preise, darunter den Verdienstorden der Itali­enischen Republik. 2017 gründete er den Verein No Cap, der sich für die Rechte von Erntehelfern einsetzt.

Was konnten Sie erreichen?

Wir haben während drei Monaten gestreikt und wurden von Hilfsorganisationen, Gewerkschaften und auch der Bevölkerung unterstützt. Schliesslich wurde ein Gesetz gegen die Caporali erlassen, jetzt kommt es immer wieder zu Anklagen. Ich habe mein Studium beendet, eine Zeitlang bei einer Gewerkschaft gearbeitet und dann 2017 die Organisation No Cap gegründet.

No Cap verkauft Früchte und Gemüse, vor allem Dosentomaten und Passata, die fair hergestellt werden. Was heisst das? Wir schalten die Caporali als Vermittler aus. Wir überzeugen die Betriebe, sich an die gesetzlichen Bedingungen zu halten. Die Arbeiter verdienen wie vertraglich festgelegt 50 bis 60 Euro für sechseinhalb Stunden Ernte. Die mittlerweile 1500 Menschen, die für No-Cap-Produzenten arbeiten, erhalten gute Unterkünfte, dabei unterstützen uns häufig Kirchgemeinden und Hilfsorganisationen. Ultimativ verlangen wir, dass der Staat für die Arbeiter Wohnungen baut. Und es geht natürlich auch darum, die fairen Produkte in den Handel zu bringen.

Welche Rolle spielt der Handel im System der Ausbeutung?

Eine entscheidende. Die Produzenten beklagen sich über einen massiven Preisdruck durch den Handel. Wichtig sind vor allem die Konsumenten. Sie müssen beim Handel nachfragen, wie das Obst und Gemüse geerntet und produziert wird. Es braucht Druck, eine Revolution der Bürger.

Noch sind Ihre Produkte in der Schweiz nur bei wenigen kleinen Händlern erhältlich. Teils kostet die Passata um die fünf Franken.

Ich weiss, das ist sehr viel. Aber wir stehen noch am Anfang. Wir möchten unsere Tomaten auch an grosse Detailhändler liefern. Das wird nur mithilfe der Konsumentinnen gelingen. Sie können faire Produkte einfordern: No-Cap-Produkte oder jene von vergleichbaren Marken.

Grosse Detailhändler hierzulande betonen, dass ihre Lieferanten in Italien die Tomaten mit Maschinen ernten. Was halten Sie davon?

Das nimmt nicht nur Arbeitsplätze weg, sondern ist zugleich nur die halbe Wahrheit. In den Abfüllbetrieben braucht es weiterhin Menschen, welche die Tomaten sortieren. Auch sie müssen oft unter sehr schlechten Bedingungen arbeiten.

Bräuchte es nicht ein Label für europäische Produkte aus fairer Produktion, analog zum Fairtrade-Label im globalen Süden?

Wir haben versucht, das und Ähnliches, wie einen Mindestabnahmepreis an die Produzenten, in der EU zu lancieren. Aber die grossen Unternehmen und der Handel sind zu mächtig. Es gibt eine sehr, sehr starke Lobby, die auch vor Korruption nicht zurückschreckt. Fast 40 Prozent der EU-Gelder fliessen in den Agrarsektor. Diese Subventionen sind in Ordnung, müssten aber an gerechte Arbeitsbedingungen für die Erntearbeiter gebunden sein.

Stehen Sie im Kontakt mit anderen Organisationen in Südeuropa, die sich für Arbeiterrechte einsetzen?

Natürlich. Was in Italien geschieht, geschieht auch in Spanien, Portugal, Griechenland. Wir wollen uns zusammenschliessen, um stärker zu werden und gemeinsam gegen die Ausbeutung vorzugehen. Davon erhoffen wir uns viel.  

In Italien haben Sie mit der «Re­volte der Würde» Erfolg. Man solidarisiert sich mit den Erntehelfern, doch es ändert sich wenig. Warum?

Ja, die Solidarität der Bevölkerung ist gross. Aber in Italien wurden die Arbeiterrechte in den letzten dreissig Jahren massiv abgebaut. Viele Unternehmen haben ihre Produktion ins Ausland, etwa nach Osteuropa, verlegt. In Süditalien ist der Durchschnittslohn sehr tief und die Kaufkraft sinkt ständig weiter.

Sie kamen mit einem sehr positiven Bild von Europa nach Italien. Dieses wurde gründlich widerlegt. Wie haben Sie das erlebt?

Ich war sehr enttäuscht und schockiert. In Afrika wurde lange durch Filme und andere Medien ein Bild von Europa als Paradies gezeigt.

Warum machen sich immer noch so viele Menschen auf nach Europa und riskieren dabei ihr Leben?

Es gibt viele Gründe, zu hoffen, dass es sich dort besser lebt. Kriege, Konflikte, die Folgen der Klimakrise treiben die Menschen in die Flucht.

Ausstellung und Film

Die Citykirche Offener St. Jakob organisierte im Herbst eine Reise nach Süditalien, bei der Teilnehmende die Ghettos migrantischer Feldarbeiter besuchten und mit Hilfsorganisationen und Betroffenen sprachen. Entstanden ist eine Ausstellung mit Bildern der Fotografin Ursula Markus. Die schlimmen Arbeits- und Lebensbedingungen der Landarbeiter in Italien behandelte 2020 auch Regisseur Milo Rau in «Das neue Evangelium». Er verwob einen Passionsfilm mit Dokumentarelementen und besetzte die Rollen mit der lokalen Bevölkerung und Migrantinnen und Migranten aus den Ghettos. Der Film, in dem Yvan Sagnet die Rolle des Jesus spielt, läuft bis Anfang November auf Play Suisse.

Die europäische Politik setzt immer mehr auf Abschottung.

Man sollte den Menschen in Europa nicht vorgaukeln, dass sich das Migrationsproblem mit geschlossenen Grenzen lösen lässt. In Italien hat sich die Immigration vervielfacht, trotz Salvini und Meloni, die versprachen, diese zu stoppen. Was es braucht, ist eine völlig andere Politik gegenüber Afrika. Schluss mit den politischen Einmischungen und Schluss mit der Ausbeutung der Rohstoffe. Stattdessen braucht es eine gerechte Handelspolitik, Investitionen in Bildung und Entwicklung – einen neuen globalen Plan. Doch eine Abkehr vom Ausbeutungsregime zu einer Politik auf Augenhöhe benötigt viel Zeit. Das sollten die europäischen Staaten ihren Bürgern und Bürgerinnen vermitteln.

Was wäre für Sie eine menschliche Flüchtlingspolitik seitens Europa?

Respekt gegenüber allen Menschen. Europa ist überaltert und auf Immigration angewiesen. Migranten sollen die gleichen Rechte haben wie andere im Land. Es braucht Ausbildung, Förderung, Integrationsinitiativen. Zudem sollte man den Menschen, die in einem Land arbeiten, Papiere geben. Denn sonst können sie nicht legal angestellt werden, wir können den Arbeitern nur helfen, wenn sie Aufenthaltspapiere haben.

In vielen EU-Ländern zeichnet sich ein Rechtsrutsch ab. Verlieren Sie da nicht die Hoffnung?

Schaut man auf die Geschichte zurück, hat es immer Menschen gegeben, die Widerstand leisteten. Zum Beispiel im Naziregime. Als unser Kampf begann, gab es wenig Hoffnung auf Erfolg. Und doch haben wir schon viel erreicht. Auch mein Glaube hilft mir. Jesus war der Ansicht, mit dem Glauben lasse sich die Welt verändern.

Im Film «Das neue Evangelium» haben Sie Jesus ja sogar gespielt. Wie war das für Sie?

Es war aussergewöhnlich, fantastisch – eine grosse Ehre, denn ich komme aus einer sehr gläubigen Familie. Und ich konnte auch eine politische Botschaft übermitteln. Denn Jesus war immer ein Aktivist. Er hat sich unbeirrt für Frieden, Barmherzigkeit, Gerechtigkeit und für gelebte Nächstenliebe eingesetzt. Wie kann man am Sonntag zur Messe gehen und zugleich eine Politik der Ungerechtigkeit unterstützen? Salvini hat sich als braver Christ produziert und zugleich gegen Flüchtlinge gehetzt.

Gab es in Ihrer Rolle einen Satz, der Sie besonders berührt hat?

Das waren viele. Am wichtigsten ist mir aber: «Liebt einander, wie ich euch geliebt habe.» Nichts ist wichtiger als die Liebe. Nur so kommen wir weiter als Menschen. Jesus würde man heute auf einem Flüchtlingsboot im Mittelmeer antreffen. Davon bin ich überzeugt.